Brüssels Rolle an der Hache

Die Europäische Union ist allgegenwärtig und doch weit weg – obwohl sie in Syke einen eigenen Garten hat

Syke/Brüssel. Blau weht sie im Wind, mit zwölf goldgelben Sternen, die Flagge der Europäischen Union. Die fünfzackigen Sterne sind als Symbol für Einheit in einem Kreis angeordnet. Doch scheint diese Einheit in Zeiten von immer steigenden Umfragewerten für nationalistische Parteien in Gefahr. Marine Le Pen vom Rassemblement National würde Frankreich an erste Stelle auf der Prioritätenliste des Landes setzten. In Italien ist mit Giorgia Meloni und ihrer Fratelli d’Italia bereits eine „Italien-First“-Partei an der Macht. Und auch in Deutschland steigen in vergangener Zeit die Umfragewerte von AfD und jüngst der neuen Wählergemeinschaft von Sahra Wagenknecht. Beides politische Interessensgemeinschaften, die Europa hinten anstellen.

„Bedeuten über 70 Jahre Frieden nichts?“, fragt sich Gerhard Thiel vom Verein Europa Union in Syke. Für ihn ist das europäische Bündnis vor allem Gemeinschaft und Frieden. Doch die EU beeinflusst das Leben in den Ländern auch auf andere Weise: Sowohl Auflagen jeglicher Art als auch Fördermittel kommen aus Brüssel – oder Straßburg. Und da wird es etwas unübersichtlich. Denn das Europäische Parlament, eines der drei politischen Organe der EU, zieht regelmäßig von der belgischen Hauptstadt ins Elsass. Andere europäische Einrichtungen befinden sich wiederum in Luxemburg (Gerichtshof) oder Frankfurt am Main (Zentralbank). Soweit alles im geologischen und auch wirtschaftlichen Zentrum der Union. Doch wer weiß das eigentlich alles? Und wie sollen Menschen zwischen Benelux und Elsass über die Kompetenz verfügen, über die Interessen und Bedürfnisse von Menschen auf dem europäischen Land zu entscheiden?

Wahlen ab 16 Jahren

Dafür gibt es die Europawahlen, bei denen Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg gewählt werden, um jene Interessen zu vertreten. Aus Niedersachsen sind es neun – insgesamt wird Deutschland durch 96 Abgeordneten vertreten. Zudem hat Niedersachsen eine eigene Vertretung in Brüssel, geführt von Ministerin Wiebke Osigus und Staatssekretär Matthias Wunderling-Weilbier. Und trotzdem: Obwohl „nur“ 500 Kilometer zwischen Syke und Brüssel liegen, fühle sich das politische Geschehen sehr weit weg an. Um Europa und die Politik und Werte stärker nach Syke zu holen, legte die Europa-Union einen Garten direkt im Zentrum der Stadt an. „Dort machen wir regelmäßig Aktionen, um aufzuklären“, erklärt Thiel.

Eigenen Einfluss auf die Politik der Europäischen Union können die Europäer vom 6. bis 9. Juni 2024 nehmen. Dann nämlich stehen die nächsten Parlamentswahlen und wahlberechtigt sind erstmals Wähler bereits ab dem 16. Lebensjahr. „Es ist ganz wichtig, gerade den jungen Menschen zu erklären, welche Bedeutung Europa für uns alle hat“, sagt Thiel. Zu wenige (junge) Menschen kennen sich aus – obwohl die Europäische Union viel Geld in Öffentlichkeitsarbeit investiert. „Wer sich nicht interessiert, bekommt aber nicht viel mit, und das muss sich ändern“, sagt Thiel.

Er sieht vor allem die Schulen in der Pflicht, aber auch seinen Verein will er verjüngen: „Wir brauchen wieder mehr Leute, die sich politisch engagieren und auskennen“. Denn, so Thiel weiter: „Das, was Europa ist, die lange Zeit des Friedens, die Sicherheit, all das kann von einem auf den anderen Augenblick weg sein. Dafür muss etwas getan werden.“ Deshalb sollten die Werte schon so früh wie möglich in der Schule vermittelt werden. Doch es müsse mehr verstanden werden als nur die Werte. „Jeder sollte das politische System, in dem er lebt, verstehen“, fordert der Vorsitzende der Europa-Union. Grundlage dessen sei das gegenseitige Kennenlernen und Verstehen. „Dafür reicht aber kein Austausch für zwei Wochen in der Sekundarstufe.“ Thiel fordert mehr Kooperation, mehr Austausch und gemeinsame Projekte – insbesondere mit den angrenzenden Staaten.

Europa in der Schule

Eine Schule, in der der europäische Austausch ein allgegenwärtiges Thema ist, sind die Berufsbildenden Schulen (BBS) in Syke – eine von etwa 190 Europaschulen in Niedersachsen. Für die Europaaktivitäten an der Syker BBS ist unter anderem Silke Hillermann verantwortlich. „Die internationale Arbeit ist fest in unserem Leitbild verankert und ist eine essenzielle Aufgabe für uns an der Schule“, erklärt sie. Das gelte für Schüler, Lehrer und Partner. „Wir ermöglichen Praktika im europäischen Ausland und Sprachreisen, um sich darauf vorzubereiten“, erklärt Hillermann.

Mittlerweile gehöre es zu einem guten Ausbildungsplatz, den Auszubildenden solche Möglichkeiten zu bieten. „Bei Unternehmen wie Ikea oder Mercedes ist das meist unkompliziert“, erklärt Martina Fischer. Sie ist für Administratives beim Thema Europa zuständig. „Aber auch Azubis aus kleinen Betrieben können über uns international Praktika bekommen“, ergänzt Fischer. Darum kümmere sie sich. Sogar die Ausbildungsvergütung erhielten die Lehrlinge dann weiter, darüber hinaus werden die Aktionen von Erasmus Plus unterstützt.

Auch der Unterricht an der Schule soll die Schüler so ausstatten, dass ihnen Europas Türen offenstehen. Diese Aufgabe fällt unter anderem in Martina Wesemanns Kompetenz. „Für unsere Gymnasiasten ermöglichen wir neben dem deutschen Abitur auch ein europäisches Wirtschaftsabitur in Form eines Zertifikates an“, erklärt sie. Dazu gehöre unter anderem der Volkswirtschafts-Unterricht auf Englisch, eine zweite Fremdsprache, ein PC-Führerschein, Kultur-Training und ein Auslandspraktikum. „Für die Auszubildenden mit wirtschaftlichem Bezug wird neben den Praktika auch der ‚Europakaufmann‘ angeboten.

Die BBS Syke ist über verschiedene Netzwerke mit anderen Europaschulen in über elf Ländern vernetzt. Von Brüssel gehe diese Initiative jedoch nicht aus. „Wir haben zwar einen Vertreter in Brüssel, allerdings nur über eines der Netzwerke“, so Hillermann. Auch bekomme die Schule keine Fördermittel für ihre Aktivitäten. „Ab und zu gibt es Materialien, den Rest stemmen wir aus unseren Bordmitteln“, fügt sie hinzu. Das sehe in anderen europäischen Ländern anders aus. Einer der Gründe, warum es nicht mehr solcher Angebote und Schulen gibt.

Wer genauer wissen will, wo um ihn herum die Politik aus Brüssel und oder Straßburg Einfluss hat, wird fündig unter: www.what-europe-does-for-me.eu/en/portal.