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(K)ein Hauptsitz für die EU – Warum das Parlament darin stillsteht, niemals still zu stehen

Oktober 2023, die buntgefärbten Blätter fallen von den Bäumen. Auch zu dieser kühlen Jahreszeit ist die Arbeit eines EU-Parlamentariers stets eine zweigeteilte: Während im eigenen Büro im großen Brüsseler Gebäudekomplex die nächste Tagung eines Ausschusses oder einer Fraktion vorbereitet wird, um bald nur wenige Stockwerke tiefer stattzufinden, wird in etwa 350 Kilometern Entfernung ein noch größeres Gebäude mit einem ganz ähnlichen Zweck, doch ohne Abgeordnete auf angenehme 23 Grad beheizt. Eigentlich braucht es das nicht, dem ist man sich bewusst, doch nach unzähligen Debatten in den letzten Jahrzehnten sind sich fast alle sicher: Man kann es nicht ändern. Wie konnte es dazu kommen?

Wir schreiben das Jahr 1951. Deutschland, wie wir es heute kennen, ist damals weder ein Staat, noch zwei – denn tief im Südwesten liegt die Republik des Saarlandes. Erst vor kurzem ist man dort als Nation einem sportlichen Verband namens Fifa beigetreten, noch vor dem großen Nachbarn flussaufwärts. In der Bundesrepublik wird gerade die neue Nationalhymne vorgestellt, weitere ehemalige SS-Offiziere hingerichtet und der Kriegszustand für beendet erklärt. Offensichtlich war damals vieles anders als heute. Doch so manches von dem, was wir heute Gegenwart nennen, geht aus damaligen Beschlüssen hervor. So auch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz EGKS oder „Montanunion“, aus der später die Europäische Union entstand.  Mit ihr setzen sich sechs mitteleuropäische Gründungsstaaten das Ziel, den Handel in einigen Bereichen zu erleichtern und allgemein wieder mehr zusammenzuwachsen. Dafür muss ein Hauptsitz her, für den zunächst die Stadt Luxemburg vorgesehen ist. Doch wie sich herausstellt, findet man dort keine Räumlichkeiten, die groß genug wären und so weicht man zunächst auf den Sitzungssaal des Europarates aus – nach Straßburg. So kann man die Arbeit erstmal ohne größere Probleme aufnehmen. Was damals noch niemand ahnt: Bis heute ist es der offizielle Sitz des Europäischen Parlaments, obwohl es dort schon längst nur noch fünf Tage im Monat verbringt.

„Zum Glück nicht Straßburg!“ – wir sind zurück in der Gegenwart, im Herbst des Jahres 2023 und befragen Peter Stano, den Pressesprecher des Europäischen Auswärtigen Dienstes in Brüssel. Der regelmäßige Umzug scheint ein Problem der Parlamentarier zu sein. „Es steht in den Verträgen, es muss gemacht werden, aber zum Glück betrifft es uns nicht.“ Mit seinen Kollegen reist er nur hin und wieder nach Luxemburg, weil dort die Sitzungen der Außenminister stattfinden. Schon auf dem Platz vor dem EU-Gebäude fällt der Schriftzug „Bruxelles-Luxembourg“ auf, neben dem Logo der belgischen Staatsbahn, direkt über einem Treppenabgang zu entsprechenden Bahngleisen. Wenn man vor der Haustür der EU einsteigt und in Belgiens kleinen Nachbarstaat will, ist man per Direktverbindung in unter drei Stunden am Ziel – ganz unkompliziert. Einen einfachen Weg ins Elsass, nach Straßburg scheint es eher nicht zu geben. Man kann einen großen Bogen über Paris fahren und dort Bahnhofs-Hopping zu betreiben, damit ein Umstieg möglich ist. Vielleicht erwischt man von Brüsseler Hauptbahnhof aus auch eine von zwei direkten Verbindungen am Tag. Am ungestörtesten legen sich die rund fünf Stunden von Parlament A zu Parlament B aber immer noch mit dem Auto zurück. Zu Beginn jeder „Straßburg-Woche“ kann man dann praktischerweise im Windschatten von fünf LKWs fahren, die zur Aufgabe haben, die Büros von 705 Abgeordneten und deren 1093 Mitarbeitenden temporär nach Frankreich zu verfrachten. Die Umwelt dankt.

Ein Blick ins Jahr 1958. Im letzten Jahr haben die neu gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Atomgemeinschaft (Euratom) ihre Arbeit in Brüssel aufgenommen. Belgien bietet sich für solche europäischen Projekte an, durch eine zentrale Lage, sprachliche Vielfalt und eine gute Verkehrsanbindung. Doch das Land will mehr: Gerade richten sie die Weltausstellung „Expo 58“ aus, mit über 4.600 Ausstellern aus 48 Ländern, eigens dafür haben sie das berühmte Atomium gebaut. Innerhalb von sechs Monaten kommen über 41 Mio. Besucher, mehr als das vierfache der Landesbevölkerung. Diesen Menschen will man sich präsentieren und Pluspunkte sammeln, im Rennen um die immer noch nicht feststehenden Sitze von europäischen Institutionen. Es werden Vormachtstellungen errichtet, in Frankreich, Belgien und Luxemburg, die niemand aufgeben wollen wird.

In der Gegenwart treffen wir Carsten Volkery, er ist Journalist und als Brüssel-Korrespondent für das Handelsblatt tätig. Natürlich liegt hier auch ein Fokus auf der Arbeit des europäischen Parlaments. Ob man dafür denn auch jeden Monat nach Straßburg mitreisen müsse, wird er gefragt: „Es ist so, dass eigentlich alle Kollegen, von der SZ, der FAZ, vom Deutschlandfunk regelmäßig die Straßburg-Woche auch dort verbringen. Wir sagen uns immer nee, das muss nicht sein.“ Denn vieles ginge auch Remote: „Man verpasst nicht wirklich was, wenn man hier ist und kann auch so gute Berichterstattung machen.“ Eine Entscheidung zu treffen, kann manchmal auch einfach sein.

Und im April 1965 soll es auch in den Sitzungssälen endlich einfacher werden. Da es nun seit mehreren Jahren drei europäische Institutionen gibt (EGKS, Euratom & EWG), möchte man sie in einem Fusionsvertrag zusammenbringen. Folgendes hat man sich da überlegt: Die Hohe Behörde der EKGS, und jeweils die Kommission von EWG und Euratom gehen auf in der Europäischen Kommission, während der Europäische Rat an die Stelle des Besonderen Ministerrats der EKGS, und den Räten von EWG und Euratom tritt. Na dann. Der Vertrag wird oft als der Beginn der EU wie wir sie heute kennen angesehen. Zur Feier des Tages soll auch das Parlament wandern – doch wer denkt, dass es jetzt nach Brüssel geht, der hat weit gefehlt. Es geht nach Luxemburg. Weil mit dem neuen Vertrag die Kommission und die meisten Dienststellen nach Brüssel gehen, will man Luxemburg entschädigen. Man will aber auch Straßburg nicht enttäuschen, also wird gependelt. Davon sind die Franzosen allerdings gar nicht begeistert, sodass es 1981 vollständig dorthin zurück geht.

Wir treffen die deutsche Pressereferentin des Europäischen Parlaments, Judit Hercegfalvi in Brüssel. Hier findet laut ihr die inhaltliche Hauptarbeit statt. Die aktuelle Brüssel-Straßburg-Situation sei „leider ein Manko der Vertragsgestaltung, das man damals mit den sechs Gründungsstaaten nicht bedacht hat“. Offenbar stellte einen ein Überwindungsversuch dieses Mankos heute vor ein viel umfassenderes Problem, denn es würde eine Änderung des EU-Vertrags vor den Augen von mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten bedeuten. „Würden wir das jetzt aufmachen, dann wäre alles wieder auf dem Tisch. Auch ob die EZB in Frankfurt ist, ob in Alicante eine Agentur ist, oder in Dublin oder sonst wo.“ Trotzdem gäbe es bereits Überlegungen, was man mit dem Gebäude in Straßburg machen könne, sobald die Abgeordneten nicht mehr dort arbeiten. Ob das den Franzosen gefallen wird?

Es ist 1992 und der Vertrag von Maastricht liegt auf dem Tisch. Er legt Straßburg als offiziellen Sitz des Europäischen Parlaments fest, wieder ein Kompromiss, obwohl sich die Tätigkeiten der Abgeordneten mehr und mehr nach Brüssel verlagert haben. Dort befinden sich mittlerweile seit einiger Zeit die für sie wichtigsten Einrichtungen. Nun sollen sie an diesem Ort zwar die Tagungen ihrer Ausschüsse und Fraktionen abhalten können, müssen für die Plenarsitzungen aber monatlich verreisen. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden sich immer wieder Widerstände gegen diesen Beschluss formieren, bis zur Zermürbung. Doch am Ende steht sie trotzdem wieder vor der Bürotür eines jeden EU-Parlamentariers: Eine große, grüne Kiste, „Kantine“ genannt, die darauf wartet, mit Dokumenten und weiteren wichtigen Dingen bepackt zu werden.

„Das ist mittlerweile eher ein mobiler Kleiderschrank“, sagt der SPD-Abgeordnete Tiemo Wölken zu uns, „Ich habe da immer so ein Dampfglätteding drin, für den Notfall.“ Ob er von seinem Heimatort Osnabrück nach Brüssel oder Straßburg fährt, ist ihm relativ egal – durch die Verspätung der Bahn käme ungefähr das gleiche heraus. Doch auch er sieht den inhaltlichen Hauptarbeitsplatz ganz klar in der belgischen Großstadt. „Ich verstehe den Charme von Straßburg, das ist eine schöne Stadt und die tun auch wirklich viel damit wir uns wohlfühlen, aber es macht einfach wenig Sinn, dass wir ein Mal im Monat dahinfahren.“ Jedes Jahr werde das in den Haushaltsverhandlungen thematisiert, etwa 140 Mio. Euro im Jahr könne man einsparen. Doch am Ende bleibt alles beim Alten, es wird 12 mal jährlich gependelt. „Weil wir in der sitzungsfreien Woche im Sommer nicht in Straßburg sind, fahren wir im Oktober zwei Mal – damit wir uns auf jeden Fall an die Vorgaben halten und weil Frankreich uns sonst wieder verklagt.“ Die Bürokratie: Eine humorlose Erfindung.

Eine letzte Zeitreise, in das Jahr 2011. Die liberale Fraktion im Europaparlament gibt eine Studie in Auftrag, die errechnet, dass die wirtschaftlichen Kosten des Umzugs bei mindestens 180 Mio. Euro liegen. In dieser Summe befindet sich auch die Bezahlung von 317 Vollzeitstellen, die im Rahmen der Organisierung zustande kommen. Hohe Dimensionen berechnet man auch im Bereich der ökologischen Kosten: Demnach erzeuge die Pendelei im Durchschnitt einen Emissionsverbrauch von etwa 4.500 Haushalten, mit insgesamt rund 19.000 Tonnen Kohlendioxid. Das liegt nicht nur an den dutzenden LKWs, die die Kisten transportieren, sondern auch an der Tatsache, dass das Gebäude in Straßburg ebenfalls das ganze Jahr über beheizt werden muss. Die parlamentarische Nutzung der EU beläuft sich aber auf gerade mal 42 Tage jährlich. Doch das ist noch nicht alles – im selben Jahr veranstaltet die Universität Zürich eine Befragung unter Abgeordneten. Diese ergibt, dass sich eine große Mehrheit von 91% Brüssel als einzigen Sitz des Parlaments wünschen. Selbst 73% der französischen Abgeordneten sollen dafür gewesen sein. Ganz gegensätzlich klingt die Warnung, die der damalige EU-Botschafter Frankreichs, Philippe Etienne daraufhin ausspricht: „Frankreich wird Straßburg sehr stark verteidigen.“ Und siehe da: Bis heute ist man anscheinend keinen Schritt weitergekommen. Es soll selbst Vorschläge gegeben haben, den Europäischen Rat (Brüssel) oder den Europäischen Gerichtshof (Luxemburg) nach Straßburg zu verlegen, die nicht zu einer Einigung führten. Der große Grund: Eine einstimmige Abstimmung unter den Mitgliedsstaaten ist nötig, um das alles zu ändern. Sowas passiert generell kaum, mit den „üblichen Verdächtigen“ der letzten Jahre, wie Polen oder Ungarn, in diesem Fall stellt sich offensichtlich Frankreich quer und es wird noch weniger passieren, wenn man sich generell in uneinigen oder unsicheren Zeiten befindet.

Es ist 2023, und wir befinden uns in uneinigen und unsicheren Zeiten. Im nächsten Jahr steht die Europawahl an und das Parlament droht gespaltener als jemals zuvor daraus hervorzugehen. Gleichzeitig befindet man sich in großen Problemen – durch Gegner der Institution, die sie von innen zerlegen wollen und durch den Klimawandel. Bereits 2019 hat das Parlament den Klimanotstand ausgerufen. Und mit der Verkündung eines Notstands ruft man üblicherweise aus, dass sie bisherigen Maßnahmen nicht reichen, um aus der jeweiligen Lage wieder herauszukommen. Das Problem des ständigen Umzugs rüttelt gleichermaßen an der Klimabilanz, den Finanzen, der Produktivität, dem Image und der Einigkeit im Allgemeinen. Mit Geschichten wie diesen kann bereits all das stehen und fallen, wofür die Europäische Union stehen will.

Foto: unsplash / Hansjörg Keller

Jan Böffgen

ist 23 Jahre alt und seit 2021 aktives Mitglied der JPN. Er studiert Journalismus und arbeitet als Redakteur und Moderator beim Radio

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