Filmkritik zu „La ligne“, der seine Premiere bei der Berlinale feierte und noch bis zum 20. Januar in der Wettbewerbssektion zu sehen ist.
Das Gras ist noch feucht von der Morgenluft, als die 14-jährige Marion (Elli Spagnolo) mit einem Eimer blauer Farbe über die Wiese stapft. Im Abstand von 100 Metern malt sie einen Kreis um das Grundstück. Es ist kein Spiel, kein Streich. Keine Geister soll die Linie abwehren abgewehrt – sondern Marions eigene große Schwester.
Dass sie zu Gewalttäigkeit neigt, hat Magaret (Stéphanie Blanchoud) schon oft in Schwierigkeiten gebracht und ihre Beziehung zerbrochen. Doch dass die 35-Jährige bei einer Familienfeier ihre Mutter Christina (Valeria B. Tedeschi) verprügelt, bringt das Fass zum Überlaufen gebracht. Christina erstattet Anzeige gegen ihre eigene Tochter, die sich dem eigenen Zuhause monatelang nicht weiter als hundert Meter nähern darf. Anfangs versucht Magaret noch Begegnungen zu erzwingen und lauert ihrer Familie auf. Doch dann kommt die Reue. Dass sie fortan Tag und Nacht an der Linie wartet und ihrer kleinen Schwester aus der Ferne Musikunterricht gibt, kann die Mutter nicht erweichen.
Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier hat in ihren Filmen schon häufiger zerbrochene Familien (wie „L’enfant d’en haut“) portraitiert. Doch die titelgebende Linie schafft eine neue Herausforderung: Die Filmemacherin muss die Beziehung von Mutter und Tochter erzählen, obwohl sich diese über weite Strecken des Filmes nicht begegnen. Doch gerade darin, wie die Mutter ihre Tochter in ihrem Hause unerwähnt lässt, spiegeln sich die tiefen Abgründe. Christina verhält sich, als wäre ihre Tochter nicht existent und spielt stattdessen Familienharmonie. Hinter dem aufgesetzten Lächeln der früheren Pianistin verbergen sich Härte und Ehrgeiz. Für sie zählt die Musik mehr als die Mutterrolle und keine ihrer Töchter trifft den richtigen Ton. Das spiegelt sich auch die klassische Filmmusik mit harten Streicherklängen, unpersönlich und kalt wirkt. Gewalt hat in „La lignie“ viele Gesichter. Nur ist die Form, in der Magaret sie mit den Fäusten äußert, weniger subtil. Sie läuft nicht im Takt, den die Gesellschaft vorschreibt.
Viel zu lange war die Gewalt männlichen Figuren vorbehalten. 2019 erst kämpfte sich in „Systemsprenger“ die 11-järhrige Benni auf die Leinwand. Nun führt „La ligne“ vor Augen, dass Gewalttätigkeit nicht mit den Schulabschluss endet und erzählt die Geschichte einer erwachsenen Frau. Die Bilder von Magaret, wie sie nachts allein an der Linie steht und Gitarre spielt, wirkt noch lange nach. An der Linie, die viele Familien durchzieht. Nur dass sie in „La ligne“ sichtbar wird.
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