In einer vom Coronavirus dominierten Medienwelt dringt kaum an uns heran, welchen Fortgang die Proteste in Chile nehmen. Eine Abiturientin berichtet von ihren Reiseerlebnissen.
Eigentlich hätte Chile am heutigen 26. April 2020 einen historischen Tag erleben sollen. Der Tag womöglich, an dem die Chilen*innen sich in einer Volksabstimmung für einen komplett neuen Verfassungstext ausgesprochen hätten. In der Flut der Corona-Nachrichten rund um Ausgangsbeschränkungen und Todeszahlen erfahre ich Anfang April nur zufällig von der Verschiebung der Volksabstimmung am anderen Ende der Welt. Und wohl auch nur deshalb, weil ich noch kurz zuvor für einige Monate in Chile gelebt und gearbeitet hatte. Eine lehrreiche und vor allem turbulente Zeit, lange bevor mich ausgerechnet eine Pandemie zur verfrühten Abreise zwang. Turbulenzen, die das aufgeschobene Volksbegehren erst möglich gemacht hatten.
Die Revolution der 30 Pesos
Ein Rückblick: Alles beginnt wenige Wochen nach meiner Ankunft im Oktober 2019, als in der Hauptstadt Santiago de Chile kleinere Studierendenproteste in erheblichen Unruhen kumulieren. Busse werden angezündet, Straßen verwüstet, U-Bahn-Stationen zerstört – es sind Bilder von genau dem klischeehaft chaotischen Lateinamerika, wie es mir vor meiner Reise von besorgten Bekannten prophezeit worden war. Doch dies ist erst der Beginn einer riesigen Protestwelle, die über das gesamte Land, schließlich auch in die mittelgroße Stadt La Serena schwappt, wo ich zu dieser Zeit ein fünfmonatiges Praktikum in einem Hostel absolviere. Dort im Norden des Landes begleiten die Proteste mich bald täglich: das Geräusch von Trommeln und Pfeifen in den Straßen, kleine und große Fackeleien, eingestellte Buslinien, verrammelte Läden und stets eine Prise Tränengas in der Luft. Es ist, als hätte sich in Chile ein Ventil geöffnet und jahrelang aufgestaute Wut würde plötzlich entlassen. Was war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte?
Die Frage nach dem Auslöser der Proteste lässt sich kurz zusammenfassen: Anfang Oktober war eine Preiserhöhung der Metrotickets in Santiago um 30 Pesos verkündet worden, umgerechnet 3,9 Cent. Über einen Monat dürften so Mehrkosten von gerade mal dem Wert eines „Completos“, eines typisch chilenischen Hot Dogs, entstehen. Die Allerärmsten mal ausgenommen muss also noch mehr hinter der Wut der Chilen*innen stecken. Einen Teil der Antwort auf die Hintergründe bietet vielleicht ein Paparazzi-Bild des Staatspräsidenten Sebastian Piñera, welches im Oktober im Internet kursiert. Es zeigt ihn seelenruhig bei der Geburtstagsfeier seines Enkels in einem Nobelrestaurant der Hauptstadt am Abend der ersten großen Proteste. Von der Wut auf der Straße bekommt er dort nichts mit. Diese „abgekapselte Elite“ ist ein Begriff, den man in den folgenden Tagen und Wochen öfters hören wird.
Der Funke springt über
600 Kilometer nördlich verspüre ich zunächst hauptsächlich die Angst, meine Eltern könnten von den Unruhen erfahren und sich um mich sorgen. „Kind, wir haben dir gleich gesagt, dieses Südamerika ist ein Pulverfass…“ Die Tagesschau berichtet dankenswerterweise erst verzögert und zunächst nur über die Ausschreitungen in Santiago, weit entfernt von meinem Standpunkt. Dabei ist die Protestbewegung längst in fast allen Landesteilen angekommen. Vielerorts wird der Ausnahmezustand verhängt und auch La Serena gerät in den Fokus, nachdem in der angrenzenden Stadt ein großer Supermarkt in Flammen steht. Valparaíso, Concepción, Antofagasta, überall wird plötzlich protestiert – aber auch zerstört. Als Folge des Vandalismus wird bald das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. Welche Infrastruktur wann und wo funktioniert, kann mir oft niemand sagen. Die Kommunikation über viele Dinge verläuft nur noch durch Gerüchte. Ich bin froh, einen festen Ort zum Bleiben zu haben und Menschen, die mir erklären, was vor sich geht. Dass diese Zeit in meine ersten Wochen in Chile fällt, beeinflusst natürlich sehr, wie ich das Land von Anfang an erlebe.
Eine chilenische Kollegin erzählt mir von ihrer Sorge um steigende Lebenshaltungskosten, die teure private Gesundheitsversorgung und ihre unzureichende private Altersvorsorge. Chile war nicht immer schon die Bastion des extremen Neoliberalismus‘, die es heute ist. Bis 1973 sah es sogar eher danach aus, als würde das Land unter Salvador Allende in eine kommunistische Zukunft steuern. Doch dann putschte das Militär unter General Pinochet, der kaum Diktator geworden die Wirtschaft nach dem Vorbild des USA umbaute. Die Amerikaner wiederum hatten das ganze Vorhaben gestützt und taten das auch über die nächsten 17 Jahre Gewaltherrschaft hinweg. Auch nach deren Ende 1990 war, nun in der Demokratie, kein wirklicher wirtschaftspolitischer Kurswechsel in Sicht. Diverse sogenannte sozialdemokratische Regierungen scheiterten daran, die hohe Ungleichheit im Land zu mindern. Und so bleiben viele Güter und Dienstleistungen bis heute privatisiert, Wasser gehört auch dazu. Der aktuelle Präsident Piñera übrigens ist als Milliardär und Landbesitzer einer der größten Nutznießer des Systems. Immer deutlicher zeigt sich für mich: Die Geschichten von Chile, dem stabilen und wirtschaftlich starken Land am Rande des krisengebeutelten Lateinamerikas sind mehr Mythos als für alle Einwohner geltende Wirklichkeit. Wenn meine Kollegin den Namen des Präsidenten ausspricht, ist jedenfalls immer eine gehörige Portion Missgunst dabei. Seit sie 15 ist, geht sie für Veränderungen im Land auf die Straße, zu den friedlichen Demos. So groß wie jetzt war die Bewegung, die so mächtige Worte wie „Systemwandel“ in den Mund nimmt, jedoch noch nie.
Alte Wunden reißen auf
Längst wurde in den großen Städten auch das Militär zur Unterstützung der Polizei beordert. Die Soldaten sollen für Ordnung sorgen, rufen aber stattdessen noch mehr Wut hervor. Bei vielen Chilen*innen erwecken sie ungute Erinnerungen an die Militärdiktatur, in der Soldaten tagtäglich aufständische und andersdenkende Bürger*innen maßregelten. Zurzeit sind die Morde und Verschleppungen der Ära Pinochets kaum ein Thema in der chilenischen Gesellschaft, eine „Erinnerungskultur“ wie sie in Deutschland zumindest von staatlicher Seite etabliert ist, gibt es nicht. Ich bin geschockt, wie wenig die Diktatur und ihre Akteur*innen hier aufgearbeitet sind. Es wird für mich auf einmal verständlich, dass systematische Polizeigewalt in Chile keinesfalls ein Ding der Vergangenheit ist. Eindrücklich erlebe ich, was passiert, wenn die Mauer des Schweigens zu bröckeln beginnt. Viel Wut kommt zu Tage. Aber auch Diskussionen und Chancen?
Am 25. Oktober erreichen die Proteste ihren Höhepunkt, als geschätzt eine Million Menschen durch Santiagos Straßen ziehen. Die Farbbeutel sind noch nicht aufgebraucht, an Steinen zum Werfen mangelt es auch nicht. Fast könnte einem die Regierung leid tun. Tut sie nichts, demonstriert sie nur die ihr vorgeworfene Gleichgültigkeit gegenüber der Sorgen des „gemeinen Volkes“. Bewegt sie sich doch, wirken die Maßnahmen reichlich halbherzig und unglaubwürdig. In dieser hochexplosiven Stimmung scheint den Mächtigen nur noch ein altbewährtes Werkzeug einzufallen, welches zuletzt ausregerechnet zu Diktaturzeiten zur Anwendung kam, um die Aufständischen unter Kontrolle zu bekommen: Nächtliche Ausgangssperren. Eine Woche lang darf sich unter Strafe niemand mehr zwischen 20 und 6 Uhr auf den Straßen blicken lassen. Natürlich wagen es einige wenige Wagemutige doch, ich gehöre nicht dazu. Nach Feierabend bin ich gut in der hauseigenen Cafeteria beschäftigt, um die zum drinnen bleiben gezwungenen Gäste mit einem Abendessen zu versorgen. Und doch ist es bestürzend, wie schnell man in seinen demokratischen Grundrechte in Chile eingeschränkt werden kann, wenn der Staat es erst einmal so beschließt.
Von der Straße ins Parlament
Je mehr ich lerne, desto sympathischer wird mir die Bewegung. Tatsächlich scheint zumindest in La Serena inzwischen der friedliche Teil der Demonstrant*innen die Oberhand gewonnen zu haben, die als Trommeln genutzte Kochtöpfe und ihre Stimmen als einzige Waffen zu nutzen scheinen. Dennoch hat das Straßenbild etwas gelitten, reihenweise wurden Ampeln ausgerissen, die während meiner gesamten Zeit in La Serena nicht mehr ersetzt werden.
Doch auch wenn es beginnt, in manchen Städten ruhiger zu werden, scheint die Wut der Chilen*innen endlich den Sprung in die Politik geschafft zu haben. 2020 soll es nun eine Volksabstimmung geben über das Fortbestehen der derzeitigen Konstitution aus dem Jahr 1980, also noch aus der Zeit Pinochets. Die Wahl könnte eine gewaltigen Chance für den Richtungswechsel im Land sein. Doch Vielen, mit denen ich rede, fehlt der Glaube, dass nach all den Jahren voller Versprechungen und ausgerechnet unter dem einzigen rechtskonservativen Präsidenten der letzten zwei Jahrzehnte die langersehnten Veränderungen möglich sind. Mit Spannung wird der Entscheid am 26. April erwartet.
Ein unerwartetes Hindernis
Inzwischen sind wir schlauer und wissen, dass im Frühjahr 2020 eine ganz neue Bedrohung auf den Plan tritt, die weder Privatisierung noch Militär heißt. Das Coronavirus erreicht im März auch Chile, das „Land am Ende der Welt“. Nach meiner überstürzten Abreise Mitte des Monats kann ich nur noch aus der Ferne beobachten, wie es mit dem Plebiszit weiter geht. Im Oktober soll nun stattdessen abgestimmt werden, ein geschlagenes Jahr nach Beginn der Proteste. Mag es auch erstmal ganz andere Probleme geben, bleibt doch Ernüchterung zurück. Wieder einmal müssen die Chilen*innen auf die langersehnten Veränderungen warten. Unsicher, ob in diesem Jahr überhaupt endlich ein Wandel eingeläutet wird. Zeitenwende oder „weiter so“?
Mich persönlich haben die unerwarteten Turbulenzen während meines Aufenthalts jedenfalls viel gelehrt. Wie Tränengas riecht oder verrammelte Innenstädte aussehen etwa. Im Kern aber ist mir vor allem klar geworden, wie wichtig dieser oft abstrakte „soziale Frieden“ ist. Denn in einer Gesellschaft, die ihn sich nicht etwas kosten lässt, in der über die Vergangenheit nicht geredet wird und die Politik den Bodenkontakt verloren hat, können schon 3,9 Cent alles zum Wackeln bringen.
Fotos: Pia Riepl-Bauer
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