Nach dem Nazi-Terror von Hanau: Den Finger nicht nur auf die Täter richten, sondern vor allem auf uns.
Ein Kommentar von Thilo Manemann
2019 erschoss in Halle ein rechtsextremer Attentäter zwei Menschen. Im selben Jahr wurde Walter Lübcke von Neonazis hingerichtet. Die Nachforschungen weisen auf ein breites Netzwerk von Unterstützer*innen hin. Diese Woche wurden zwölf Menschen festgenommen, die eine rechtsextreme Terrorgruppe gegründet haben sollen mit dem Ziel, Moscheen anzugreifen und einen Bürgerkrieg auszulösen. Einer der Verdächtigen ist Verwaltungsmitarbeiter der Polizei.
Innerhalb der Bundeswehr gibt es hunderte Verdachtsfälle rechtsextremer Gesinnung – das Dunkelfeld ist weitaus größer. Die Zahl wurde nur durch öffentlichen Druck publik. Immer wieder finden sich unter den rechtsextremen Tätern*innen Polizeibeamt*innen. Dass der Polizei trotzdem immer mehr Macht durch neue Gesetze eingeräumt wird, spricht für sich und für den Umgang der Bundesrepublik mit Rechtsextremen in den eignen Reihen. Und immer wieder erscheint dasselbe Mantra, das innerhalb der Politik und der Medienlandschaft wiedergekäut wird und das anfängt, bitter zu schmecken: Alles Einzelfälle.
Und jetzt Hanau. Zehn getötete Menschen. Die Generalbundesanwaltschaft übernimmt die Ermittlungen. Der Grund ist ein „fremdenfeindliches“ Motiv. Schon die Begrifflichkeit ist irreführend. Es sind keine „Fremden“, die erschossen werden. Auch beim NSU wurden keine fremden Menschen ermordet, sondern Mitbürger*innen, Nachbar*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Und darin liegt das Hauptproblem. Wer durch Hanau geschockt dasteht und nicht weiß, wie das passieren konnte, der hat nie auf die Menschen gehört, die immer auf die Bedrohung hingewiesen haben.
Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Brandanschlages von Mölln 1992, sagte beim NSU-Tribunal: „Jeder wird akzeptieren müssen, dass Betroffene nicht Statisten sind, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen“. Er bringt die Dinge auf den Punkt: Nach Hanau werden dieselben Politiker*innen und Expert*innen in den Talkshows sitzen und sich die Frage stellen wie das passieren konnte. Abermals werden keine Menschen repräsentiert sein, die seit Jahren rassistischen Angriffen ausgesetzt sind. Dabei weisen sie schon seit jeher auf die Gefahr hin. Sie sind nicht geschockt, weil sie tagtäglich in Deutschland damit rechnen müssen. Stattdessen wird die Psyche des Täters durch den Fleischwolf des schlechten Gewissens gedreht und die Verantwortung verpufft letzten Endes in einer symbolischen Abgrenzung einer „fremdenfeindlichen“ Ideologie. Das Problem heißt Rassismus und das bittere Fazit wird sein, dass Betroffene immer noch Statist*innen sind. Die Verantwortung liegt aber auch in der Politik mit der rassistischen Rhetorik von „Das Boot ist voll“, denn wie Arslan festhält: „Es waren Neonazis, die sich von der Republik bestätigt gefühlt haben, als sie dies taten.“
Wenn wir weiter über die Täter*inne reden anstatt über ein gesellschaftliches Problem, das sich tief in den Sicherheitsbehörden verwurzelt hat, wenn wir weiter bei Betroffenen von „Fremden“ reden und wenn wir ihre tagtägliche Angst nicht ernstnehmen, aber über sie sprechen anstatt mit ihnen, dürfen wir nicht erschrocken sein, wenn der nächste rechtsextreme Anschlag seine Toten fordert. Den Finger dürfen wir jedoch nicht mehr nur auf die Täter*innen richten, sondern vor allem auf uns. Der deutsche Mythos von „Wir haben von nichts gewusst“ ist schon lange passé.
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