Journalist*innen schreiben nicht nur Tag für Tag über Veränderungen – sie erleben sie auch in ihrem eigenen Beruf. Die Digitalisierung stellt die journalistische Arbeit und deren bisherige Finanzierung auf den Kopf. Doch inzwischen lassen sich dank ihr auch Trends zu einem moderneren und zeitgemäßen Journalismus erkennen.
Wer den Nannen Preis gewinnt, hat es als Journalist*in zu etwas gebracht. Eigentlich. Einer der Preisträger*innen würde das wohl nicht einmal selbst von sich behaupten. Sein ausgezeichnetes Werk gibt es nicht auf ausgedrucktem Papier. Für sein Unternehmen arbeiten gar keine Journalist*innen. Und sein Medium heißt nicht Spiegel oder Süddeutsche Zeitung – sondern Rezo ja lol ey. Dass der Youtuber Rezo mit seinem Video Die Zerstörung der CDU die Tage vor der Europawahl 2019 in Deutschland durcheinandergewirbelt hat, ist unbestritten. Dass der 27-Jährige dafür jedoch gleich den wichtigsten deutschen Journalistenpreis abgeräumt hat, hat bei vielen Journalist*innen für Empörung gesorgt – auch wenn die Kategorie Bestes Web-Projekt nicht zu den Königsdisziplinen zählt. Als „Entertainer mit einem gewissen Informationsanspruch“ kritisierte ihn der Medienjournalist Ben Krischke. Sein Kollege Tobias Singer meinte hingegen, Journalist*innen störten sich nur daran, dass die Recherche nicht für ein renommiertes Medium entstanden sei.
So oder so – das Beispiel Rezo zeigt gut, wie sich der Journalismus seit Beginn der Digitalisierung verändert. Gerade junge Menschen holen heute nicht mehr morgens die gedruckte Zeitung aus dem Briefkasten und schalten um 20 Uhr den Fernseher für die Tagesschau ein. Sie bekommen viele Informationen on demand aus unterschiedlichen Quellen im Netz. Sie gucken eher Netflix als Fernsehen, hören eher Podcasts als Radio. Statt Zeitschriften abonnieren sie vornehmlich YouTube-Kanäle und Instagram-Profile – und zwar kostenlos.
Auch zahlreiche erwachsene Konsument*innen haben die Vorteile der Digitalisierung erkannt. Für Journalist*innen und Medienunternehmen ist sie auf den ersten Blick aber ein großes Problem. Die alte Weisheit „Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“ bekommt von einem neuen Trend Konkurrenz: Auf einmal scheint nichts in der Nachrichtenwelt so angestaubt wie die gedruckte Zeitung überhaupt –ein neuer geflügelter Ausdruck im Journalismus heißt „Print ist tot“. Denn die gedruckte Zeitung kann mit dem hektischen Tempo der Push-Nachrichten-Welt meist nicht Schritt halten. Die Zahl der verkauften Tageszeitungen in Deutschland hat sich laut dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) von 1991 bis ins vergangene Jahr mehr als halbiert. Auch das lineare Fernsehen und Radio verlieren Nutzer*innen an Podcast-Apps und Streamingdienste.
Medienforscher: Das sind die vier Probleme des Journalismus
Doch das alles sind erst einmal zusammenhanglose Beobachtungen. Wie lassen sie sich die Veränderungen zusammenfassen? Der Medienwissenschaftler Siegfried Weischenberg hat dafür einen Ansatz gefunden. Er beschreibt die Krise in vier Problemen:
Das erste Problem nennt der Forscher Konkurrenzproblem: Durch die Digitalisierung nimmt der Wettbewerb zwischen Medien nämlich stark zu. Suchmaschinen und soziale Netzwerke werden zu riesengroßen Kiosken für Nachrichten. Und da suchen sich die Nutzer*innen das Angebot aus, das ihnen am besten passt. Hinzu kommen neue Angebote: Livestreams und Videos, Webreportagen, interaktive Formate. Und Politiker*innen und Unternehmen kommunizieren außerhalb klassischer Medien intensiver und direkter mit ihrer Zielgruppe.
Das zweite Problem bezeichnet Weischenberg als Komplexitätsproblem: In Zeiten, in denen jeder Tweet und jede Instagram-Story sekundenschnell über den Atlantik schwappen, nimmt auch die Menge der Informationen zu, die Journalist*innen für ihre Zielgruppe sortieren, beschreiben und einordnen müssen. Und dadurch, dass das weltweite Wissen immer rasanter zunimmt, werden auch die Themen in sich komplizierter.
Problem Nummer drei heißt bei Weischenberg Professionalitätsproblem: Mit Blick auf die ersten beiden Probleme stellt sich nämlich heutzutage auch die Frage, was Journalismus heute eigentlich vom Nicht-Journalismus unterscheidet. Gehört nur eine 13 Seiten lange Recherche aus dem Spiegel dazu oder eben auch Rezos Video mit einer genauso langen Quellenliste? Nur ARD- oder auch Netflix-Dokus? Nur die neue Hautcreme-Empfehlung von Stiftung Warentest oder auch die aus Laura Müllers Instagram-Story?
Problem Nummer vier – das Finanzierungsproblem – führt schließlich dazu, dass die Journalist*innen und Medienunternehmen die Krise auch selbst zu spüren bekommen. Denn mehr Konkurrenz und Komplexität auf der einen und weniger Alleinstellungsmerkmale auf der anderen Seite bedeuten am Ende auch weniger Geld für den Journalismus. Mit einfachen Nachrichten lässt sich kein Geld mehr verdienen, denn sie verbreiten sich rasend schnell und sind auf zahlreichen Plattformen abrufbar. Anzeigen sind im Internet nicht so viel wert wie im Rundfunk oder in gedruckten Medien. Und viele Konsument*innen wollen im Netz kein Geld für Informationen bezahlen – schon gar nicht, wenn es die scheinbar auf einer anderen Seite kostenlos gibt. Mit weniger Budget und Personal ein altes Produkt in die neue Zeit hieven? Das ist irgendwas zwischen Mammutaufgabe und Teufelskreis.
Sterben klassische Medien jetzt aus?
Doch wie geht es jetzt für den Journalismus weiter? Sterben die Zeitungen einfach nach und nach aus? Und mit ihnen die Radio- und Fernsehsender? Wenn ja, was wäre daran eigentlich so schlimm? Die journalistische Arbeit soll schließlich kein Selbstzweck sein. Auf den ersten Blick könnte die Entwicklung auch Vorteile haben: Immerhin können sich Bürger*innen im Netz gezielt selbst über das informieren, was sie wissen wollen. Vereine posten Termine auf ihrer Website, Politiker*innen starten eigene Podcasts, in denen sie über ihre Ziele reden, Unternehmen veröffentlichen Informationen in den sozialen Netzwerken. Die Infos kommen direkt bei den Konsument*innen an, keine Journalist*innen stehen mehr dazwischen. „Gefällt mir“ oder „abonnieren“ drücken und fertig? Zu kurz gedacht.
Denn gerade im Digitalen Zeitalter ist der Journalismus für die Demokratie überlebenswichtig. Für Journalist*innen gehört es zum Handwerk, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Und Fake News von Fakten. Sie decken Skandale auf und schauen den Mächtigen auf die Finger. Sie ordnen Nachrichten ein, stellen Meinungen in ihren Berichten ausgewogen dar und bringen in ihren Analysen die Hintergründe komplexer Sachverhalte auf den Punkt. Die Betreiber*innen sozialer Medien haben dabei bislang versagt – und die Nutzer*innen können das unmöglich allein. Die Welt wird nicht nur für Journalist*innen komplizierter, sondern für alle Menschen. Für diejenigen, die gut informiert sein wollen, können vertrauenswürdige Medienmarken in stürmischen Zeiten zum Anker werden. Das zeigt auch die Corona-Pandemie: Die Hauptausgabe der vermeintlich altbackenen Tagesschau hatte in der Corona-Zeit an Spitzentagen 17 Millionen Zuschauer*innen – normalerweise sind es rund zehn Millionen. Viele Zeitungen verzeichnen wieder Auflagenzuwächse, auch online steigt die Zahl der Nutzer*innen.
Corona ist wohl kein Ausweg aus der Krise
Ob der Journalismus dank Corona aus seiner Krise kommt, ist aber fraglich. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass bei vielen Medienmarken gerade die Anzeigenpreise einbrechen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk Geld sparen muss. Die Probleme liegen also tiefer.
Hoffnung macht da die tatkräftige Experimentierfreude im Online-Journalismus: Einige Start-ups setzen ihren Fokus auf entschleunigten Journalismus, der auf Tickermeldungen verzichtet und Analysen in den Mittelpunkt rückt. Oder auf konstruktiven Journalismus, der zu dem Konflikt vor allem über die möglichen Lösungen berichtet. Andere versuchen, nur exklusive Recherchen zu veröffentlichen oder die Berichterstattung mehrerer Medien zusammenzuführen und so mehr Überblick und Meinungsvielfalt abzubilden. Tagesschau-Moderator Jan Hofer ist auf TikTok unterwegs. Viele Zeitungen arbeiten im Netz mit Plus-Modellen, bei dem Leser*innen Abos abschließen müssen, um exklusive Texte zu lesen. Und selbst auf dem gedruckten Medienmarkt etablieren sich wieder neue Magazine.
Mittlerweile zeichnen sich auch im digitalen Raum erste Trends ab, bei denen erkennbar ist, dass der Qualitätsjournalismus dort nicht mehr vorsichtig umherirrt, sondern seine Qualität neu unter Beweis stellt: Ulf Buermeyer und Philip Banse liefern mit ihrem Podcast Lage der Nation nicht nur ein wöchentliches Nachrichten-Update, sondern gleich die komplexen Hintergründe dazu. Wieso hat ein Polizist George Floyd ermordet? Wie geht US-Präsident Trump mit den Demonstrationen um? Und wie entsteht eigentlich Alltagsrassismus in unserer Gesellschaft? Dabei setzen sie sich auch selbstkritisch mit dem Feedback ihrer Hörer*innen auseinander: Was haben wir nicht gewusst, was hätten wir noch erklären müssen?
Auch in den Live-Tickern zahlreicher Online-Medien steht unter einer Liste mit den wichtigsten Neuigkeiten mittlerweile eine Box mit der Überschrift „Was wir noch nicht wissen“. Zu kontroversen Themen veröffentlichen viele Medien eine Pro- und eine Kontra-Meinung aus der Redaktion. „Noch immer lernen Volontärinnen und Berufsanfänger, dass Journalisten in Texten keine Fragen stellen, sondern Antworten geben. Ist das noch zeitgemäß?“, fragen Stephan Weichert und Matthias Daniel zurecht in ihrem Buch Wie wir den Journalismus besser machen.
Medien können die gespaltene Gesellschaft zusammenführen
Die wachsende Transparenz und Nähe zu Leser*innen schlägt sich auch in analogen Formaten nieder: Viele Tageszeitungen laden ihre Abonnent*innen zu Diskussionsforen mit Politiker*innen oder Stammtischen mit Redakteur*innen ein. Über die Veranstaltungsreihe My Country Talks bringt Zeit Online erfolgreich Menschen zusammen, die in politischen Streitfragen gegenteiliger Meinung sind. In Zeiten, in denen die Individualisierung zunimmt und die Gesellschaft immer gespaltener scheint, können Medien die Menschen also auch zusammenführen.
Und schlussendlich ändern sich durch all das auch die Themen, die in den Medien wichtig sind. Vermehrt rücken leser*innenorientierte Service-Stücke in den Mittelpunkt: In welchen Bäckereien können die Menschen in Kleinkleckersdorf auch am Feiertag Brötchen kaufen? Was kann die neue Corona-App und was nicht? Und welche Corona-Regeln gelten gerade in meinem Bundesland? „Digitales Denken führt uns näher zum Leser zurück – und gibt uns die Chance, mit ihm noch einmal neu zu starten“, schreibt Hannah Suppa, Chefredakteurin für Digitale Transformation und Innovation im Regionalen bei der Madsack Mediengruppe, im Medienmagazin journalist.
Natürlich verdienen Medien im Netz auch mit reißerischen Überschriften Geld durch Klicks. Natürlich zieht mancher Algorithmus Menschen von der seriösen Quelle hin zu bewussten Fehlinformationen. Natürlich ist es nicht immer leicht, Falschinformationen oder Produktplatzierungen von herausragenden Exklusiv-Infos zu trennen. Und noch immer verdienen Medienkonzerne im Netz weitaus weniger Geld als in der analogen Welt. Die Digitalisierung bleibt also herausfordernd für Journalist*innen und Medienunternehmen. Diese Herausforderungen beherzt anzugehen, ist aber nicht allein ihre Aufgabe. Wenn Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt auch im digitalen Zeitalter gelingen sollen, ist diese Aufgabe auch eine für Politik und Gesellschaft.
Journalist*innen können gerade jetzt unter Beweis stellen, dass sie auf diesem Weg vorausdenken – indem sie sich einerseits auf ihr journalistisches Können verlassen und andererseits stärker denn je an ihre Zielgruppe denken, mutig experimentieren und ihre Arbeit immer wieder kritisch reflektieren. Kurzum: Sie können jetzt zeigen, wodurch sich guter und zeitgemäßer Journalismus auszeichnet. Egal, ob sie dafür irgendwann auch mal einen Nannen Preis bekommen oder nicht.
Foto: Michael Gaida / pixabay
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