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Mein erstes Mal Berlinale

Eine Gitarrensaite wird angeschlagen, dann erklingt ein U-Boot-Sonar. Auf der Leinwand drehen sich goldene Bären, explodiert eine Kugel und goldene Funken regnen. Die kurze Einspielung entfacht fast so viel Vorfreude wie das Stimmen der Instrumente in einem Konzertsaal. Was für andere Menschen das Tatort-Theme auslöst, entfacht nach zehn Tagen für mich das Berlinale-Intro.

Ohne diesen Einspieler vor jedem Film, hätten wir Studierende zwischenzeitlich fast vergessen können, wohin uns das Seminar „Schreiben über Film“ der Universität Hildesheim verschlagen hat: Auf die Berlinale, wichtigstes deutsches Filmfestival und Treffpunkt der Filmszene. Denn das Komitee hat zwar der anhaltenden Corona-Pandemie getrotzt, aber das Festival ist von Sicherheitsmaßnahmen gezeichnet: Partys, Empfänge und Netzwerk-Treffen mussten in diesem Jahr aussetzen. Die Filmemacher*innen meldeten sich, abgesehen von der Premierenvorstellung, nur in einer kurzen Videogrußbotschaft zu Wort. Stars auf dem roten Teppich und die Preisverleihung konnte ich mir lediglich auf dem Sofa anschauen, wenn im Fernsehen ein Bericht vom Festival lief. Wie beim Sex – das erste Mal Berlinale hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Zeltdach bei der Berlinale | Foto: Linus Heethy

Doch allein für die Filme haben sich die Reise nach Berlin, das Ticketbuchen in aller Frühe und das Hetzen zwischen den verstreuten Kinos gelohnt. Mit sektionsübergreifend 256 Filmen aus 69 Ländern, die für die diesjährige Berlinale ausgewählt wurden, konnten auch Akkreditierte nur einen kleinen Einblick in das Spektrum erhaschen. Wahrscheinlich geprägt durch meinen im Januar gedrehten Kurzfilm „Schreiendes Schweigen“ über elterlichen Streit aus Kinderaugen orientierte ich mich bei meiner Auswahl  thematisch an Filmen, die angespannte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in den Mittelpunkt rücken. Darunter „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, für den Meltem Kaptan den Silbernen Bären als beste Schauspielerin erhielt. Allerdings ist ihre Rolle der Rabiye Kurnaz, die sich voller Inbrunst über Jahre hinweg für ihren in Guantánamo eingesperrten Sohn kümmert, die rühmliche Ausnahme. Viele andere Filme der diesjährigen Berlinale rücken hingegen Geschichten von Gewalt zwischen Eltern und Kindern in den Mittelpunkt. Magaret schlägt den Kopf ihrer Mutter auf das Klavier, bis Blut an den Tasten klebt („La ligne“).  Auf einem Supermarktparkplatz fährt die Mutter Su-kyung mutwillig ihre eigene Tochter an („The Apartment with Two Women“). Ethan ist gerade erst von der Schule weg und träumt von einer Karriere, steht aber stattdessen vor der Entscheidung, seine morphiumsüchtige Mutter in die Psychiatrie wandern zu lassen („Stay Awake“). Die Filme scheuen sich nicht davor, irreparabel zerbrochene Familien zu portraitieren und Ausweglosigkeit zu zeigen.

Als angehender Filmemacher galt mein Interesse außerdem besonders den Debütlangfilmen. Doch im Gegensatz zu den Kurzfilmprogrammen, die inhaltlich wie stilistisch ungewöhnlichste Filme präsentierten, verließ ich bei den Debütlangfilmen ausnahmslos enttäuscht den Kinosaal. Handwerklich sind sie zwar auf ganzer Linie überzeugend und leben von einer interessanten Grundidee. Doch ist die persönliche Handschrift der Filmemacher*innen nur zu erahnen. „Millie Lies Low“ aus Neuseeland etwa nimmt sich dem Thema Panikattacken an, nur um nach dem ersten Drittel in starre Komödienmuster zurückzufallen und Gags zu liefern, als habe Til Schweiger Regie geführt. Der deutsche Beitrag „Echo“ täuscht mit einem Erzählfaden im Afghanistan-Krieg Tiefgang vor, ist aber nicht mehr als ein mittelmäßiger Sonntagabendkrimi inklusive Moorleiche und schrägem Gutsbesitzer. „Wir könnten genauso gut tot sein“ aus den Reihen der Filmuniversität Babelsberg fasziniert durch die Grundidee, die europäischen Außengrenzen metaphorisch in Form eines Hauses zu erzählen. Doch der Film bleibt ein wages Konstrukt aus Andeutung, anstatt intensiver das Unrecht der Gegenwart und die Gefahren der Zukunft vorzuführen. Die Filme erinnerten auch einen neben mir sitzenden 50-jährigen Filmemacher „mehr an einen Bewerbungsfilm bei ARD und ZDF als ein freigeistige Werke“ junger Talente. Womöglich steckt dahinter die Angst vor dem Markt. Denn während Kurzfilme vor und während des Studiums noch keinem Erfolgsdruck ausgesetzt sind, ist der Debütlangfilm der Schritt in die professionelle Filmwelt. Wird er ein Misserfolg, kann das für junge Regisseur*innen ein frühzeitiges Karriereaus bei Sendern und Filmförderanstalten bedeuten. Eine mögliche Ursache, warum gerade die Filmemacher*innen deutscher Filmschulen in ihren Stoff lieber auf konventionelle Stoffe und Erzählweisen bauen, anstatt neues Terrain zu betreten. Eine Angst, die in ohnehin unsicheren Zeiten der Corona-Pandemie weiter gestiegen sein dürfte.

Der Vorhang schließt sich im Zoopalast | Foto: Linus Heethy

Bei der Eröffnungsveranstaltung sprach die Festivalleitung nach dem Ausfall im vergangenen Jahr oft und gerne von einer Ausgabe, „wie sie immer war“. Doch Corona hat die Berlinale 2022 maßgeblich geprägt. Damit gemeint ist nicht nur das Rahmenprogramm. In jeder Filmentstehung dürfte der Virus tiefe Abdrücke hinterlassen haben, ob im fertigen Film nun Masken und Desinfektionsmittel zu sehen sind oder nicht. Dass die Pandemie nur in einem einzigen meiner 31 gesehenen Berlinale-Filme thematisiert wird (in der argentinischen Quarantäne-Komödie „La edad media“), ist bezeichnend für die Einstellung, die Pandemie in Filmwelten lieber zu verschweigen. Und doch hat es gutgetan, mit dem Aufleuchten der Leinwand den Virus endlich für ein paar Stunden vergessen zu dürfen. Wie die Zeichen stehen, bleibt die Berlinale als Präsenzfestival in diesem Jahr nicht alleine.

Silas Degen

Silas studiert Szenische Künste an der Universität Hildesheim. Seine Filme und Hörspiele sind meist Zeitreisen und erzählen von historischem Unrecht wie der Kinderverschickung der Nachkriegszeit und dem Hexenwahn. Journalistische Arbeit u.a. für das heute journal im ZDF, die kinema kommunal und die Hildesheimer Allgemeine Zeitung.

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