Filmkritik zu “Grand Jeté”, der seine Premiere bei der Berlinale feierte und noch bis zum 20. Januar in der Sektion Panorama zu sehen ist.
Als Regisseurin Isabelle Stever Redaktionen und Filmförderungen in die Idee ihres neuen Filmes einweihte, war die Bestürzung groß. An ausreichende Geldtöpfe ließ man sie nicht. Doch ein Filmteam mit primär Studierenden in Führungspositionen brachte das Projekt dennoch zur Realisierung. Es ist also auch der Energie von Nachwuchstalenten zu verdanken, dass das von „Grand Jeté“ verhandelte gesellschaftliche Tabu-Thema auf die große Leinwand kommt.
Schon als die ersten Klavierklänge von Tschaikowski erklingen, liegt eine Mischung von Drall und Anmut in der Luft. Ballettlehrerin Nadja (Sarah Grether) schreitet an ihren weiß gekleideten Schülerinnen vorbei und korrigiert ihre Körperhaltung. Zur Not auch mit Gewalt. Den titelgebenden Grand Jetè, ein bekannter Spagatsprung im Ballett, demonstriert sie persönlich. Eine Metapher für ihr ganzes Leben, ein Spagat zwischen Schein und Sein. Nach Außen der idealisierte Körper einer gesunden Sportlehrerin, doch ihr Kostüm verdeckt Narben, Ekzeme und eiternde Gliedmaße.
Während in vielen anderen Filmen die Augen dominieren, sind es in „Grand Jeté“ Hände und Füße. Augen können Lust nur wiederspiegeln, doch Verlangen geht von Berührung aus. Wenn der 17-jährige Mario von der Schule kommt, wartet seine Mutter schon nackt im Bett. Die bewundernswerte Kamera, geführt von Constantin Campean, hängt sich an den Gliedmaßen fest, wenn Nadja und ihr Sohn Mario (Emil von Schönfels) sich berühren. Am nackten Rücken, an der Brust, zwischen den Beinen. Die beiden haben Sex, während Mario Gedichte für den Deutschunterricht aufsagt. Begonnen hat der Inzest schon vor der ersten Aufblende des Filmes und ist für die beiden längst zur Normalität geworden. Jedes Stöhnen ist voller Leidenschaft. Wo die Sexszene in anderen Filmen längst beendet worden wäre, fängt „Grand Jeté“ erst an.
Man fühlt es dem Film in jeder Minute an, dass Student*innen ihn maßgeblich getragen haben. Er unterwirft sich keinen Regeln, keiner Routine. Szenen der Lust sind lang und Schnitte eine Seltenheit. Regisseurin Stever wagt den Spagat, die Figur der gebrochenen Nadja mit kritischem Blick zu begleiten, ohne den Film in eine reine Provokation oder Moralpredigt abrutschen zu lassen. Er erzählt sich ohne Vorgeschichte und ohne den Versuch, ein Ende zu setzen. Er hält sich nicht an moralischen Diskussionen und Paragraphen fest. Die Bilder verstören und begleiten nachhaltig, werfen Fragen auf: Fragen nach Mutterschaft, Missbrauch und Gewalt. Kann es falsch sein sein, dass zwei Menschen miteinander Leidenschaft empfinden?
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