Jakob Vicari ist Mitgründer von tactile.news, einem Innovationslabor für neuen Journalismus in Lüneburg. Als ausgebildeter Journalist hat er lange Zeit frei gearbeitet, bis er nach ein paar Umwegen im Jahr 2018 gemeinsam mit Astrid Csuraji tactile.news gegründet hat. Heute ist er Lead Creative Technologist, probiert sich vor allem mit neuen Technologien aus und fragt sich, wie es möglich ist, diese im Journalismus einzusetzen.
Hallo Jakob! Wie erklärst du deinen Freund*innen deinen Beruf?
Auf Partys gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich beginne ein Party-Gespräch und erzähle, dass ich beruflich Sensoren in Kühe stecke. Oder ich erzähle, dass ich eine Agentur für Innovation im Lokaljournalismus habe und wir Redaktionen beraten.
Was war eure Absicht, tactile.news zu gründen?
Angefangen hat das Ganze mit einer Bürogemeinschaft. Dort bin ich über die Tonie-Figuren gestolpert, die damals neu waren. Tonie-Figuren sind Audio-Figuren, die die CDs ablösen. Da dachte ich: „Ah, ein vernetztes Gerät, da müsste man in Kinderzimmern nach deutschen Datenschutzstandards doch Journalismus draufbringen können.“
Meine Kollegin hatte in der Zeit gerade die Erfahrung gemacht, ihren Kindern anhand von einer Playmobil-Figur Donald Trump zu erklären, was sich eher schwierig gestaltete. Daher meinte sie: „Eine Spielzeugfigur, die Politik erklärt, wäre super!“
Daraufhin haben wir uns mit dieser Idee am Medieninnovationszentrum Babelsberg in Potsdam beworben und eine Förderung bekommen, die ermöglichte, genau das auszuprobieren. Wir haben Prototypen dieser Toniebox-Figuren, nämlich Reporterfiguren gebaut. Das haben wir tactile.news genannt, also Nachrichten zum Anfassen, zum Begreifen. Zusammen mit Ralph Caspers und Clarissa Corrêa da Silva haben wir zwei Prototypen produziert. Leider passte Journalismus allerdings zu dem Zeitpunkt nicht ins Programm und wir mussten uns von dieser Idee verabschieden. Dafür konnten wir andere Wege finden, den Journalismus zu revolutionieren.
Diese Gründungsidee, neue Technologie, die gerade kommt, für Journalismus zu nutzen, Prototypen zu entwickeln und diese dann zu einem Produkt zu machen. – Das ist so eine Kernidee, die wir in den verschiedenen Bereichen haben.“
betont Jakob.
Wie können wir es uns in eurem „Innovationslabor“ vorstellen?
Es ist sehr wild hier. Ich habe eine Werkstatt, in der ich baue, fräse und mit Sensoren arbeite. Oft sitze ich auch am Computer und bearbeite Tabellen. Am wenigsten davon sitze ich und schreibe. Das machen bei uns andere Mitarbeiter*innen. Ziel ist es, zu versuchen, durch Förderung oder noch besser durch Kund*innen Räume fürs Spielerische zu schaffen und dann zu experimentieren. Auszuprobieren was klappt oder auch nicht.
Wie sieht euer Arbeitsalltag aus?
Alltag gibt es eigentlich ganz wenig hier. Letztens habe ich meine Zeit mit Stichsäge, Laser-Cutter und 3D-Drucker verbracht, weil wir gerade ein Dialog-Möbelstück bauen – die Dialog-Box. Sie ist wie ein bequemer Sessel mit Internet-Anschluss und Rollen, sodass sie auf Marktplätze gerollt werden kann.
Bei diesem Projekt hat man es mit journalistischer Hardware zu tun und wenn man mit der CNC-Fräse arbeitet, fühlt sich das erstmal nicht so an wie Journalismus. Aber es ist notwendig, um Journalismus und neue Technologie begreifbar zu machen.
Wir versuchen im Allgemeinen, von Routinen wegzukommen und dafür mehr Freiräume zu haben. Nur dann haben wir die Möglichkeit, die Dinge selbst auszuprobieren und sie dadurch weiter entwickeln zu können. Bevor wir das Wissen an unsere Kund*innen weitergeben, müssen wir es selber ausprobiert haben. Dann können wir anderen auch wirklich erzählen, wie es geht.
Diese Dialog-Box hört sich spannend an. Erzähl doch bitte nochmal mehr dazu!
In der Box steckt eigentlich nichts anderes drinnen als eine Alexa. Diese benutzen Menschen aber nicht für Journalismus. Wenn man sagt: „Setzt euch doch mal hin und redet über eure Stadt mit uns“, dann bringt man praktisch die Technologie ohne Angst und gleichzeitig leicht verständlich zu den Menschen. Das ist die Idee dieses Nachrichten-Möbelstücks.
Die Alexa und der Morgenmoderator Markus Steinacker vom Radio Euskirchen moderieren das in einer Doppelmoderation. Und Alexa versucht ein Gespräch zu beginnen. Aber dadurch, dass sie ein Sprachassistent ist, darf ihr*e Gesprächspartner*in weder zu lange überlegen, noch zu lange reden, denn dann wird Alexa ungeduldig. Und das ist nicht so einfach, denn auf viele Fragen gibt es auch viele Antworten.
Und da merkt man erst, wie komplex ein Gespräch ist und dass die Künstliche Intelligenz noch Einiges an Übung braucht.“
so Jakob.
Wie entstehen eure Ideen?
Wir versuchen es, unsere Kreativität relativ geordnet einzusetzen, die Ideen zu erfassen und methodisch umzusetzen. Dafür sammeln wir zuerst unsere Ideen. Dann sehen wir meistens schon, ob eine gute dabei ist.
Vieles ist aber auch Kund*innen getrieben. Beispiele können sein: „Wir müssen Werbung für unsere Community machen, wie können wir das machen?“ oder „Wir möchten eine Community aufbauen, wo finden wir die Menschen?“ oder „Wir möchten einen Fluss vermessen, wie machen wir das am besten?“. Und dann ist es wichtig, dass wir Zeiträume haben, in denen wir nicht durch irgendwelche Anrufe oder Ähnliches gestört werden.
Wie setzt ihr eure Ideen um?
Wir versuchen, alle unsere Projekte in Design-Sprints umzusetzen. Design-Sprints sind eine Methode von Jake Knapp, der sagt: „In fünf Tagen kann man alles erfinden, wenn das Ziel nur groß genug ist.“ So ein Design-Sprint ist relativ aufwendig. Da erstellen wir dann ein Team, bestehend aus acht unterschiedlichen Menschen – von Entwickler*innen, über Journalist*innen bis hin zu Game-Designer*innen. Je nachdem, welche Expert*innen gerade für das Projekt benötigt werden. Diese arbeiten dann in Gruppen und probieren, die Ideen umzusetzen.
Design-Sprint heißt für uns: „Etwas schnell bauen, ausprobieren und weiterzuentwickeln.“
Hattet ihr auch mal eine „Quatsch-Idee?
Wir hatten mal die Idee, ein Tool zu bauen, das es Zeitungsredaktionen ermöglichen sollte, ihre Texte mithilfe von Amateursprecher*innen in Audio zu verwandeln. Das ist ein super System, aber eine „Quatsch-Idee“ insofern, dass sich schnell abzeichnet, dass synthetische (künstlich hergestellte) Stimmen das Geschäftsmodell komplett überflüssig machen. Daher lohnte es sich nicht, daraus ein Produkt zu machen.
Eure Dialogsoftware „100eyes“ ist ja bereits auf dem Markt. Von wem wird sie genutzt und was ermöglicht sie?
Unsere Dialogsoftware „100eyes“ wird derzeit von 15 Redaktionen genutzt. Hauptsächlich dient sie dazu, dass mit „100eyes“ Fragen Eins-zu-Eins an die Redaktionen beziehungsweise Redakteur*innen gestellt werden können. Die Fragen erscheinen zum Beispiel in Signal, bei Telegram, per E-Mail oder im Messenger. Es ist also nicht wie in einer WhatsApp-Gruppe, in der alle Gruppenmitglieder Alles bekommen, sondern die Menschen sind im Eins-zu-Eins-Dialog mit den Redakteur*innen oder Redaktionen.
Zusammen mit dem WDR habt ihr das Projekt „Superkühe“ durchgeführt. Erzähl uns doch ein bisschen mehr davon!
Wir wollten wissen, welche die glücklichsten Kühe sind. Dafür haben wir überlegt, ob es nicht anhand von Sensoren möglich ist, das festzustellen. Innerhalb eines Jahres haben wir das Format entwickelt und dann drei verschiedene Milchkühe ausgewählt: Eine Bio-Kuh, eine Kuh eines Familienbetriebs und eine Kuh eines Großbetriebs.
Diese haben wir mit Pansen-Sensoren ausgestattet. So ein Sensor ist relativ klein und kostet etwa 1.500 Euro. Er ist ziemlich schwer, bleibt im Pansen liegen und misst dort anhand des Magensafts den Pansen-pH-Wert. Und damit misst er dort, wo das Glück der Kuh zu verorten ist. Die Pansen-Sensoren wurden bereits vorher erforscht, es waren also keine Prototypen.
So ein Sensor wurde jeweils von den drei ausgewählten Kühen runtergeschluckt und berichtete für einen Monat live aus der Kuh. Dafür haben wir eine Software entwickelt, die automatisiert ist und den Kühen dadurch eine Stimme gibt. Die Menschen konnten darüber mit den Kühen chatten und sie jeweils fragen: „Wie geht´s dir denn heute?“. Die Antwort der Kuh war teils geskriptet und teils entstand sie durch die Sensordaten.
Unser Job als Journalist*innen war es dabei zu zeigen, wie es den Kühen in unterschiedlichen Situationen geht. Unser Ziel war es nicht, vorzugeben, welche Kuh „am glücklichsten“ ist. Denn darüber können die Menschen sich jeweils ein individuelles Urteil bilden und dann entscheiden, was für Milch sie konsumieren möchten.
Was macht tactile.news besonders?
Es gibt nicht viele Agenturen oder Firmen, bei denen man das bekommt, was wir unseren Kund*innen liefern. Vor allem in der Geschwindigkeit und in der Qualität. Das ist sehr kennzeichnend für uns. Wir reden nicht nur über Innovation. Wir machen sie.
Außerdem testen wir unsere Projekte nicht nur selbst, sondern lassen sie vor allem von den jeweiligen Zielgruppen testen. Unser News-Adventure-Prototyp wurde beispielsweise von ganz vielen Kindern getestet. Und auch die Dialog-Box wird von ganz vielen Menschen getestet. Denn nur dann wissen wir, ob sie funktioniert.
Prototypen mit echten Menschen zu testen ist total schmerzhaft, weil es nie so läuft wie gedacht. Aber daraus lernt man.“
sagt Jakob.
Welche Rolle spielt Technologie in deinen Augen für den Journalismus?
Ich glaube an den Journalismus und daran, dass er durch Technologie besser wird. Ich glaube auch, dass er durch das Internet besser geworden ist und durch Technologien wie das Internet der Dinge besser wird. Auch Sprachtechnologien und KI wie Alexa können den Journalismus besser machen.
Zeitungen zu drucken, wenn der Energiepreis steigt, die Zusteller*innen Mindestlohn kriegen und das Papier knapp wird, lohnt sich nicht mehr. Und das kann den Journalismus deutlich verändern. Dafür müssen wir überlegen, was neue Ausspielkanäle sein können. Und zwar nicht, indem wir gucken, was wir Journalist*innen nutzen. Sondern uns vielmehr fragen: „Was wird eigentlich da draußen gehört? Was benutzen die Menschen?“. Um diese zu erreichen, ist Alexa ein Ausspielkanal. Alexa kann zwar auch kritisch gesehen werden, aber wenn 54% der deutschen Familien eine Alexa besitzen, dann muss ich darauf reagieren und Technologie dafür (für Journalismus) bauen.
Warum kann man nicht eine Reporterpreis-Reportage mit 50.000 Zeichen im SZ-Magazin, für die man zwei Stunden zum Lesen braucht, einfach dialogisch bauen und sie mir so erzählen lassen, wie ich es brauche? – Das ist so diese Idee dahinter. Unsere Komfortzone zu verlassen. Ein echtes Spiel zu schaffen, bei dem man journalistische Informationen vermittelt. Und wenn man das so sieht, fängt es jetzt an, richtig spannend zu werden.
Wie sieht für dich die Zukunft des Journalismus aus?
Ich glaube, dass der Journalismus der Zukunft durch Technologien, wie das Internet der Dinge, KI oder Voice besser wird. Allerdings nur, wenn es uns gelingt, Formate dafür zu entwickeln. Wenn es uns gelingt, auch individualisierten Journalismus auszuspielen, sodass ein sechsjähriges Kind andere Dinge präsentiert bekommt als eine ältere Person.
Und wenn uns das gelingt, dann hat vor allem der erzählende Journalismus eine riesige Zukunft.“
so Jakob.
Siehst du im Journalismus Fortschritte durch Innovation?
Ich glaube, dass sich zu verwandeln und Neues zu wagen die einzige Chance für den Journalismus ist, damit er bestehen bleibt. Vor allem für den Lokaljournalismus ist es wichtig, Mut zu haben und die eigenen Stärken auszuspielen. Dass man nah an den Menschen ist, viele Menschen erreicht und bereits Vertrauen zu ihnen aufgebaut hat – das sollte genutzt werden und dann kann ziemlich viel erreicht werden.
Oft herrscht noch die Angst davor, dass die Menschen neue Ideen „furchtbar“ finden könnten, oder das Medium dann weniger lieben. Doch gerade, weil die Leser*innen von Printmedien immer weniger werden, kann es durch neue Ideen eigentlich nur besser werden.
Welche Tipps hast du für uns junge Medienmachende?
Mein Tipp ist es, nicht zu schnell das Alte zu adaptieren. Vielmehr solltet ihr auf eure eigenen Erfahrungen achten. Wenn ihr selbst keine Zeitung lest, ist es vielleicht „Schwachsinn“, eine Zeitung vollzuschreiben. Wenn ihr euch aber auf TikTok informiert, dann solltet ihr auch Formate dafür entwickeln.
Versucht, euch durchzusetzen! Wenn ihr eine gute Idee habt, versucht diese umzusetzen und euch nicht von den Routinen verschlucken zu lassen. Nutzt eure Fähigkeiten als Stärke, davon kann der Journalismus total profitieren.
Ihr solltet dem Eigenen vertrauen und nicht diese alt hergebrachten Wahrheiten von den alten Häsinnen und Hasen, die sagen: „So funktioniert es und nicht anders.“ annehmen.“
betont Jakob.
Wie kann man bei tactile.news mitmachen?
Wir sind immer offen für Praktikant*innen und auch als Werkstudent*innen könnt ihr gerne zu uns kommen. Außerdem freuen wir uns über freie Mitarbeiter*innen, suchen aber auch nach festen Angestellten. Wir sind ein nettes Team und ihr könnt jederzeit vorbeikommen oder uns kontaktieren. Es gibt immer neue Projekte!
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