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In der Hängematte zur Uni

Gastbeitrag aus dem Rundbrief vom Film- und Medienbüro Niedersachsen. Nach unserem Artikel der vergangenen Woche aus den Augen einer Schülerin berichtet nun eine Medienstudentin, wie sich das Leben in Zeiten der Corona-Krise gewandelt hat.

Ich bin zu spät. Mein Seminar hat vor fünf Minuten angefangen und ich finde den Raum nicht. Damit beginnt dieses Semester wie jedes andere auch. Also, fast. Abgesehen davon, dass wir uns inmitten einer weltweiten Pandemie befinden, die alle Bereiche öffentlichen Lebens lahmlegt und der von mir gesuchte Raum deshalb nur virtuell existiert. Wäre ich jetzt auf dem Campus, würde ich einfach die nächste Person, die vorbeiläuft, um Rat fragen. Stattdessen sitze ich – wie alle anderen auch – alleine in meinem Zimmer vor dem Laptop. Erneut durchforste ich meine diversen Nachrichtenkanäle nach dem Zugangslink für das Online-Meeting per Webcam, doch auch diesmal vergebens. Ich bin völlig ratlos. So viel also zum Thema Schwerpunktfach Medien. Ohne allzu große Hoffnung, schicke ich einen letzten Hilferuf via Instagram Story an meine digitale Community, über die ich gerade mehr denn je mit Menschen in Kontakt stehe. Es ist schon verrückt, wie wichtig soziale Medien als Tor zur Außenwelt plötzlich geworden sind. Doch auch dort weiß niemand etwas. Ich schaue ein Katzenvideo. 

Studieren während Corona ist etwas völlig anderes. Zoom, Jitsi oder Big Blue Button lauten die verheißungsvollen Namen der Plattformen, die den Unterricht trotz Social Distancing ermöglichen sollen. Für uns Studierende am Kulturcampus Domäne Marienburg der Universität Hildesheim hat die Lehre auf Distanz einen besonders bitteren Beigeschmack. Diesen Sommer hätte das Projektsemester stattfinden sollen, in dem das praktische Arbeiten innerhalb der Künste und Medien noch einmal mehr als sonst im Fokus steht. Das alles ist jetzt auf den Sommer 2021 verschoben worden. Auch private Theater- oder Filmprojekte von Studierenden wurden Hals über Kopf auf Eis gelegt. Der Frust ist riesig.

Nur einige vereinzelte Seelen sind noch auf dem ausgestorbenen Gelände der Domäne Marienburg zu sehen

Fragen an die ungewisse Zukunft

Obwohl das Semester gerade erst begonnen hat, wird schon seit Wochen im Freundeskreis und im Netz diskutiert: Von Präsenz- zu Fernlehre – geht das überhaupt? Darf das als vollwertiges Semester gelten? Im Netz befindet sich eine Petition in Umlauf, die ein „Nicht-Semester“ oder „Fleximester“ fordert, damit gerade Studierenden in prekären Arbeitsverhältnissen, mit Kindern oder in Care-Berufen keine Nachteile entstehen. Auch in puncto technischer Umsetzung gibt es kritische Stimmen. Werden unsere Daten ausreichend geschützt? Können die erforderlichen Zugänge zu einem Computer und zum Internet als Bestandteil einer digitalisierten Gesellschaft einfach so vorausgesetzt werden? Wen schließen wir von akademischer Bildung aus? Warum werden diese Fragen erst jetzt gestellt? Parallel dazu kursieren panische Gesuche nach Literatur, um die letzten Hausarbeiten trotz der geschlossenen Bibliotheken noch fertigzustellen. Der Kampf um Ressourcen geht auch unter Akademiker*innen weiter. Nicht nur auf Netflix benehmen sich einige, als wären sie im Raubtiergehege.

Nach einer halben Stunde habe ich den Link zum Seminar tatsächlich gefunden. Aber sich jetzt mittendrin dazu schalten? Zu spät kommen ist online noch unangenehmer als offline. Schließlich richten sich etwa zwanzig Augenpaare permanent auf das Browserfenster, in dem man plötzlich erscheint. Das bis zur Perfektion eingeübte In-den-Raum-schleichen ist ab jetzt keine Option mehr. Dann lieber hoffen, dass man in der nächsten Woche noch Anschluss findet. Mir fällt auf, wie viele wichtige Informationen man oft zufällig untereinander austauscht, während man bei einem Kaffee auf dem Hof zusammen steht oder gemeinsam mit dem Rad nach Hause fährt. Bei dem Gedanken daran, was mir nun alles entgehen könnte, werde ich unruhig. 

Auge in Auge

Im Laufe des Tages besuche ich zwei weitere Seminare und kann mir endlich selbst einen Eindruck verschaffen. Zugegeben, ich habe Bademäntel und Menschen in Betten erwartet. Jemand liegt in einer Hängematte, ansonsten sehen aber alle sehr normal und aufnahmebereit aus. Es tut gut, in diese vertrauten Gesichter zu schauen. Trotzdem wird schnell deutlich, dass unser Arbeiten hier auf Sparflamme läuft. Die Gespräche kommen nicht recht in Schwung, mal reden alle, mal niemand. Dabei habe ich unsere Gesprächskultur immer als sehr ausgereift empfunden. Die allgemeine Verunsicherung ist spürbar. Gerade in praxisbezogenen Veranstaltungen fühle ich mich ausgebremst. Räumlich getrennt einen Podcast zu produzieren und dabei frei auch über private Themen zu sprechen, mit Kommiliton*innen, die ich nie zuvor gesehen habe? Ich stelle mir das alles schwierig vor. Vieles an unserem Campus lernen wir durch wildes Ausprobieren. Wild ist hier gar nichts. Doch nicht nur wir Studierenden, auch die Dozierenden kämpfen mit der neuen Situation. Schließlich kennt Technik keine Hierarchien und macht allen das Leben schwer. Ständig sind Bild und Ton gestört, die Verbindung bricht ab oder man wird gar nicht erst zugeschaltet. Bereits an Tag eins ist der Server überlastet. Einige Dozierende schmeißen schon nach der ersten Sitzung das Handtuch und verteilen Aufgaben wieder ganz „oldschool“ per Mail.

Ich habe Bademäntel und Menschen in Betten erwartet.

Clara Wiese

Daneben gibt es noch weitere Störquellen: Kinder, Haustiere und Mitbewohner*innen laufen durchs Bild und erinnern uns daran, warum Arbeit und Freizeit in unserer Gesellschaft normalerweise räumlich getrennt stattfinden. Aber auch daran, dass wir alle nur Menschen sind,  die noch weitere Aufgaben im Leben haben und oft unterschiedliche Rollen erfüllen müssen. Dass wir gezwungen sind, unsere Privaträume – zumindest einen Ausschnitt davon – miteinander zu teilen, ist unangenehm. In der Großaufnahme erscheinen mir die Gesichter der anderen, wenn auch nur auf dem Bildschirm, näher als sonst. Es ist beinahe intim. Ich muss an die Abhandlungen des Filmkritikers Béla Balázs denken, in der er die Großaufnahme als revolutionäre Dimension der  Filmkunst beschreibt. Laut Balázs eröffnet diese Einstellung einen Zugang zur Physiognomie des Menschen, die sogar die unbewussten inneren Dialoge und Facetten des menschlichen Wesens widerspiegelt. Also doch was gelernt, denke ich. Am Ende des ersten Tages bin ich erschöpft. Meinem Umfeld ergeht es ähnlich. Alle haben den Eindruck, dass das Pensum an Hausaufgaben und zu lesenden Texte eher noch erhöht wurde, obwohl wir ja nicht weniger, nur eben anders, präsent sind. Es mangelt an Motivation, aufgrund des fehlenden Kontaktes zueinander. Das Wort „Selbststudium“ bekommt jetzt eine ganz neue Dimension und auch für mich ist dieser Einzelkämpfer*innenmodus nur zu ertragen, weil er eine Ausnahme ist. Denn das ist er, und es wird auch wieder anders sein: kollektiver, wilder, handgemachter. Vielleicht ist die Situation nicht so, wie wir uns diesen Sommer vorgestellt haben und für einige bedeutet die Isolation eine immense psychische Belastung. Für mich selbst ist sie zumindest erträglich. Angesichts vieler Menschen, deren wirtschaftliche Existenz gerade auf dem Spiel steht, die sich in Flüchtlingslagern aufgrund der katastrophalen Hygienebedingungen nicht vor einer  Ansteckung schützen können oder die an allen Fronten von früh bis spät im Dauereinsatz sind, empfinde ich Demut als unerlässlich. Ich bin mir dessen bewusst, wie privilegiert meine Lage ist.

Bevor ich schlafen gehe, scrolle ich noch kurz durch die viralen Hits der Woche: zahlreiche Nähanleitungen für das Anfertigen einer Mund-Nasen-Atemschutzmaske, ein renommierter Theaterregisseur, der sich nicht die Hände waschen will, und ein Getränk aus Instant-Kaffee und Karies. Es sind wirklich merkwürdige Zeiten.

Fotos von Nora Fischer & Clara Wiese

Clara Wiese

Clara studiert Kulturvermittlung mit dem Schwerpunkt Medien an der Universität Hildesheim.

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