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Zusammenhalt in der Krise

Deutschland hilft den ukrainischen Flüchtenden

von Luisa Mayer

11.43 Uhr zeigt die große Uhr vor dem Ausgang Europaplatz des Berliner Hauptbahnhofs. Maskierte Touristen, Geschäftsreisende und Besucher*innen tummeln sich in der lauten Bahnhofshalle. Bahn- und Sicherheitspersonal sieht man ebenfalls, erkennbar an schwarz-roten Jacken der deutschen Bahn und schwarz-grünen Sicherheitswesten. Am auffälligsten sind aber die einheitlich neongelben und -orangefarbenen Überzüge, die in der Menschenmenge immer wieder aufleuchten. Welche Bedeutung steckt hinter den Farben?

Fünf Minuten sind vergangen, als die orange gekleideten Personen auf dem Washingtonplatz, einer der anderen Ausgänge des Sammelpunktes, ein großes Zelt betreten. Im Schlepptau haben sie Menschen aller Altersgruppen. Kleinkinder, Jugendliche, Frauen und Männer von jung bis alt. Sie tragen Gepäck bei sich. Manch einer hat einen Hund mitgebracht. Viele schauen sich in der Gegend um.

Foto: Luisa Mayer

Das Zelt entpuppt sich als „Willkommenshalle“ für geflüchtete Ukrainer*innen, die in Deutschland Zuflucht suchen. Zu Hochzeiten erreichten täglich sechstausend Flüchtlinge die Hilfsorganisation Berliner Stadtmission, die dort seit einem Monat mit vielen ehrenamtlichen Helfer*innen aktiv ist. Die Spendenbereitschaft ist gewaltig, demzufolge ist eine Finanzierung möglich. Da aber keine Erfahrungen vorhanden waren, ging in der Anfangszeit alles nur sehr holprig vonstatten. Auf die große Anzahl von Flüchtenden war man nicht vorbereitet und die Zahlen sind insgesamt auch nicht gesunken. Dennoch erreichen gerade weniger Flüchtende den Hauptbahnhof, da sie um Berlin herum zu anderen Ankunftsorten gefahren werden. An jedem der Sammelpunkte werden sie versorgt. Medizinische Notfälle werden umgehend in ein Krankenhaus befördert, wenn eine Vorortversorgung nicht ausreicht.

Große Unsicherheit und Staatsskepsis

Die Verlässlichkeit und Bereitschaft der Ehrenamtlichen ist hoch. Viele übernehmen die Nachtschichten von Mitternacht bis sieben Uhr in der Früh. Ihre Aufgabe ist es, den Geflüchteten einen ersten Platz der Sicherheit zu geben und ihnen das damit einhergehende Gefühl zu vermitteln. Das gelingt nicht immer, da bei den Ukrainer*innen aufgrund von schlechten Erfahrungen in Bezug auf ihren Staat Skepsis vorherrscht. So saß ein achtjähriger Junge alleine auf einer Bank in der Wartehalle. Auf die Frage, wo denn seine Eltern seien, gab er an, dass diese nur kurz zum Ticketschalter gegangen wären. Es stellte sich aber heraus, dass er ein Alleinreisender ist. Schutzbehauptungen wie diese sind keine Seltenheit. Die Geflüchteten sind unsicher, ob sie sich wirklich in Sicherheit befinden. Daher nutzen viele die staatlichen Angebote zur Unterbringung nicht und bevorzugen es, bei Angehörigen unterzukommen. Sie können sich in Deutschland frei bewegen, wenn sie am Ticketschalter ihren ukrainischen Pass vorzeigen. Das sollten sie aber nur tun, wenn feststeht, dass jemand da ist, der sie erwartet. Es ist schon häufiger vorgekommen, dass Menschen zurückreisen mussten, weil sie niemand empfangen hat. Deshalb ist die Unterbringung durch den Staat die sicherere Alternative. Vom Container acht, der sich hinter dem Ausgang der Willkommenshalle befindet, beobachtet man, wie die Geflüchteten mit halbstündig fahrenden Bussen transportiert werden. Da Berlin keine freien Unterkünfte mehr hat, werden sie so auf andere Bundesländer aufgeteilt, Diejenigen, die bei Familie oder Freund*innen unterkommen können, aber deren Zug erst zu einem späteren Zeitpunkt abfährt, haben die Möglichkeit, sich im Messezentrum Berlin aufzuhalten. Dort ist es warm und es gibt Schlafplätze für den Fall, dass eine Übernachtung erforderlich ist.

Von Goldschätzen und Chihuahuas

Zahlreiche ehrenamtliche Helfer engagieren sich für die Flüchtenden. Nicht nur Sozialarbeiter*innen setzen sich ein – es wirken Freiwillige aus verschiedensten Berufsfeldern mit, wie zum Beispiel Richter*innen, Polizist*innen, Krankenpfleger*innen oder Auszubildende. Der Ehrenamtskoordinator der Mission ist der Unternehmer Reinhard Zoffel, der gerade vor dem Zelt steht. Zu seiner Motivation zählt, dass er nicht nur zuschauen, sondern die Geflüchteten aktiv unterstützen und ihnen eine positivere Grundstimmung vermitteln möchte. „Hilfsbereitschaft ist für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft substanziell“, meint Zoffel. Sich für das Gute einzusetzen ist seine Devise. Die hohe Zahl der Mitwirkenden zeigt, dass viele das genauso sehen. Glücklicherweise sind unter ihnen genügend Menschen, die die russische oder ukrainische Sprache sprechen, was eine Kommunikation mit den Einreisenden einfacher macht. Freiwillige, die diese Sprachen nicht erlernt haben, kennzeichnen sich durch eine grüne Warnweste. Die Multilinguist*innen tragen diese in orange. Sie werden als „Goldschätze“ betitelt, da die Aufhebung der Sprachbarriere Gold wert ist. Zusätzlich sind einige Psycholog*innen beschäftigt. Die Geflüchteten sind in psychisch wie auch physisch sehr unterschiedlichen Verfassungen. „Die einen sehen aus, als würden sie einen Urlaub in Mallorca antreten. Sie reisen unversehrt, mit Louis Vuitton Koffer, Markenklamotten und Chihuahua in der Handtasche an. Auch wenn man ihnen am Gesichtsausdruck ansehen kann, dass sie sich nicht auf dem Weg in eine entspannte Auszeit befinden. Andere haben schlimme Kriegsverletzungen erlitten und sind traumatisiert. Für diese Menschen sind die anwesenden Seelsorger*innen wichtig“, erklärt der Koordinator.

Foto: Luisa Mayer

Sehnsucht nach der Heimat

Beim Betreten der Halle sieht man, dass sie in verschiedene Bereiche aufgeteilt ist. Es gibt eine Essensausgabe, die Brötchen, Sandwiches, warme Suppe oder auch Schokolade anbietet. Wasser ist ebenfalls bereitgestellt. Des Weiteren ist eine Art Theke aufgebaut, von der man sich Hygieneprodukte abholen kann. Für die Kinder sind Betreuer*innen engagiert, die sich um sie kümmern. Eine Spiel- und Malecke wurde eingerichtet, in der die Kleinsten beschäftigt werden. Markant ist, dass die gemalten Bilder meistens eine ukrainische oder deutsche Flagge darstellen. Man könnte annehmen, dass die ukrainischen Nationalfarben, darauf hinweisen, dass sie für die Sehnsucht nach der eigenen Heimat bei den Kindern stehen. Die schwarz-rot-goldene Farbgestaltung befindet sich zum Teil in einer Herzform. Das lässt darauf schließen, dass Deutschland von den Ukrainer*innen für seine Hilfsaktionen anerkannt wird.

Der letzte Blick fällt auf die gemalten Bilder, spielende Kinder und die erschöpften Gesichter der Erwachsenen. 13.37 Uhr.

Luisa Mayer

Luisa hat bis vor einem halben Jahr in Berlin gelebt. Nach der zehnten Klasse zog sie ins niedersächsische Bad Harzburg und ist nun am dortigen Gymnasium Redaktionsmitglied der Schüler*innenzeitung Profil und außerdem freie Mitarbeiterin der Goslarschen Zeitung. Ihr Text ist während des JPN-Reportageseminars vom 1.-3. April 2022 in Berlin entstanden.

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