Von Miriam Rüdesheim
Eine weiße Stahltür führt aus dem Krieg. Hinein in eine wohl viel behütetere und hoffentlich sicherere Welt. Weg von Bombardierungen und Sirenen. Rein in ein beheiztes Zelt mit Biertischgarnitur. Rund 60 Menschen sitzen dort an den Tischen verteilt. Es ist ganz und gar kein Festzelt. Es ist die Welcome-Hall von Berlin.
So steht es auf einem roten Schild am Kopf des Zeltes, direkt hinter dem Berliner Hauptbahnhof. Die Welcome-Hall ist das Drehkreuz für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Sie soll ein erster Platz der Sicherheit nach der Flucht aus dem Kriegsgebiet sein. Neben Essen und Trinken gibt es Hygieneartikel wie Damenbinden, aber auch medizinische Versorgung und Beratung. Es gibt eine Ecke für Kinder und einen abgetrennten Raum zum Stillen und Wickeln. „Hier ist es wie in einer Wartehalle. Es stellt sich für die geflohenen Menschen die Frage, wie es weitergeht“, sagt Reinhard Zoffel. Er gehört zum Helfer*innen-Team der Berliner Stadtmission und koordiniert die Ehrenamtlichen. Es ist ein Team, das unterschiedlicher wohl nicht sein könnte: Richter*innen, Polizist*innen und Studierende; deutschsprachige und Leute aus dem internationalen Raum helfen am Hauptbahnhof mit. Seit rund fünf Wochen arbeitet Zoffel mit seinen Kolleg*innen am Hauptbahnhof. Sie sind die erste Anlaufstelle für die Menschen aus der Ukraine. Die Helfer*innen beantworten ihre Fragen und organisieren gemeinsam mit ihnen die Weiterreise in ein neues Zuhause.
Eine Reise mit ungewissem Ziel
Eine ukrainische Familie – eine Mutter mit ihren Kindern – tritt aus der Tür aus dem Zelt. Jedes Familienmitglied trägt einen Koffer und einen Rucksack. Es wirkt nicht so, als hätten sie ihr Zuhause hinter sich gelassen, sondern vielmehr, als würden sie in den Urlaub fahren und für ein paar Tage Berlin erkunden. Nur können sie nicht so schnell nach Hause zurück. Das Kind trägt in einer Hand ein Malbuch mit Feen und Einhörnern. Eine freiwillig Engagierte trägt eine orangene Weste. Im Team werden die Personen mit einer solchen Weste auch „Goldschätze“ genannt. Sie können entweder russisch oder ukrainisch. So fällt die Sprachbarriere weg, die oft im Weg steht und eine Kommunikation schlichtweg fast unmöglich gestaltet. Die Ehrenamtliche will die Familie zum Bus nach Tegel bringen. Sie zeigt ihnen den Weg. Doch dann stoppt sie abrupt, dreht sich nach links und rechts. Sie geht auf den Koordinator zu und fragt: „Soll die Familie denn schon in den Bus? Ich glaube, der Busfahrer ist nicht da.“ Reinhard Zoffel rät ihr, erstmal zu erfragen, wann der Bus denn fahre, damit die Familie nicht im Kalten steht. Also gehen sie wieder zurück. Wenige Minuten später tritt die Familie wieder aus der Tür und dieses Mal laufen sie über den Washingtonplatz und steigen in den Bus, der inzwischen seinen Motor angeworfen hat und vor sich hin brummt. Für die Familie geht es also – trotz kurzer Missverständnisse – nun weiter. Trotz der langen Fahrt nach Berlin sind sie noch nicht angekommen. Eine erneute Reise steht ihnen bevor.
Andere geflüchtete Menschen sind noch nicht auf der Weiterreise. Sie machen Rast im Zelt hinter dem Hauptbahnhof. Obwohl viele Personen in der Welcome-Hall sind, ist es dort sehr ruhig. Alle unterhalten sich in einem verhaltenen Ton, keiner ist laut. Auch die Kinder schreien oder lachen nicht. Eine Gruppe von acht Menschen sitzt gemeinsam am Tisch. Einer von ihnen telefoniert, die anderen essen Suppe und schweigen die meiste Zeit über. Auf einem der Koffer steht ein Transportkorb. Eine Katze sitzt darin. Ein paar Tische weiter füttert ein Mann seine Frau, die im Rollstuhl sitzt. Langsam, leicht zitternd führt er den Löffel an ihren Mund, der offen steht. Es sind aber nicht nur Familien. Hier und da sitzen Einzelpersonen mit großem Abstand zu den nächsten und essen Suppe und Sandwiches. Einer starrt auf den Boden.
In der Welcome-Hall können die Menschen aus der Ukraine nicht tagelang bleiben. Für sie gibt es drei Optionen, wie es für sie in Deutschland weitergehen kann. Eine davon ist die Fahrt nach Tegel. An dem ehemaligen Flughafen teilen Verantwortliche die Ankommenden auf andere Bundesländer auf und organisieren ihre Weiterfahrt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass sich die Ukrainer*innen ihre Weiterreise selbst organisieren, um so zu Verwandten oder Bekannten zu fahren. Die letzte Option ist die Berliner Messehalle. Hier können sie eine Nacht verbringen. Ein langer Aufenthalt ist in dem großen Raum mit den Doppelstock-Klappbetten und den fehlenden Duschen aber nicht möglich – denn Berlin ist nach fünf Wochen Krieg in der Ukraine schon voll. Schon jetzt an der Kapazitätsgrenze. „Wir müssen den Ukrainer*innen zeigen: ihr seid hier willkommen. Gleichzeitig legen wir ihnen nahe, weiterzufahren“, sagt Reinhard Zoffel.
Der Krieg trifft jeden Menschen anders
„Die Menschen hier sind nicht nur vor dem Krieg, sondern auch aus dem Krieg geflohen“, berichtet Reinhard Zoffel. So habe sich auch schon ein Geflüchteter bei der medizinischen Betreuung gemeldet, dessen Bein amputiert wurde. Im Feld. Mitten im Krieg. „Und andere kommen hier mit ihrer Louis-Vuitton Handtaschen rein, in denen ein Chihuahua sitzt“. Es sei ganz unterschiedlich, wie die Menschen mit dem Krieg umgingen. Einige wirkten sehr betroffen, anderen sehe man das wiederrum nicht an. Und das ist es, was Reinhard Zoffel am meisten berührt. So hätte es auch der Prenzlauer Berg sein können, aus dem Menschen fliehen, und ein ähnlich bunt gemischtes Bild aus Personen würde sich zeigen. Das mache bewusst, dass die Menschen, die vor dem Krieg flüchten, nicht wirklich anders als wir seien. Die Menschen im Zelt wirken wie in einem Tunnel, nicht richtig anwesend. Man hat nicht das Gefühl, dass sie mit Journalist*innen sprechen wollen – über Dinge, die sie wahrscheinlich selbst noch nicht verarbeiten können.
In diesem Zufluchtsort läuft aber auch nicht immer alles glatt. So sei einmal eine Frau auf Zoffel zugekommen, die nachfragte, ob das denn normal sei, dass ihre Tochter mit einem Mitarbeiter mitgehen solle. „Das war wohl ein Fall von Menschenhandel“, sagt der Koordinator. Den angeblichen Mitarbeiter kannte er nicht. Und so müsse er auch die Helfer*innen für solche Fälle sensibilisieren. In der Hochphase kamen am Berliner Hauptbahnhof täglich bis zu sechstausend Menschen aus der Ukraine an. Die Gesamtzahl der Geflüchteten habe sich nicht verringert. Der Unterschied ist nun, dass diese teilweise auch direkt in andere Bundesländer gebracht werden und keinen Zwischenhalt mehr in Berlin machen.
Sehnsucht nach Frieden – und Papa
In der Kinderecke sitzen zwei Kinder gemeinsam mit zwei Ehrenamtlichen am Tisch. Mit roten, geblähten Wangen pusten sie Ballons auf. Um sie herum liegen bunte Bausteine. In der Ecke flattern im Wind selbst gemalte Bilder der ukrainischen Kinder. An den Zeltwänden, an Leinen über den Köpfen der Kinder – hunderte Bilder sind dort verteilt. Auf den meisten ist die ukrainische Flagge – mal als Hintergrund von einem Bild mit einem Hasen, mal als Fahnenmast oder neben Blumen – zu sehen. Eine Blau-Gelb ausgemalte Friedenstaube breitet ihre Flügel weit aus. In ihrem Schnabel trägt sie einen Zweig. Nebendran steht „Love“. Zwischen den Ukraine-Farben sind viele Bilder mit Regenbogen. In der einen Ecke im Zelt klebt ein Bild von einem Herz. Links steht „Mama“. Rechts „Papa“. Das Herz ist in der Mitte gespalten. Eine dicke Linie durch das Herz trennt die beiden voneinander. Ob es je ein Wiedersehen gibt?
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