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Garten Eden Berlins

Zwischen Heimatgefühl, Naturverbundenheit und Restalkohol

von Lisa Hofmann

Sechs Grad Celsius in Tempelhof-Schöneberg. Vielerorts schneit es heute. Berlin ist bloß kalt, ziemlich stürmisch, trotzdem voll. Eine Frau in der U-Bahn trägt Fellmütze, kurzen Mantel, hohe Schuhe, keine Maske. Großstadt-Style. Der Fußweg zum Tempelhofer Feld zieht sich in die Länge, die Erwartungshaltung sinkt. Die grauen Wolken bahnen sich schwerfällig ihren Weg über den noch graueren Himmel. Ich hingegen bahne mir meinen Weg die grauen Treppen hinunter zum Eingang des Gemeinschaftsgartens Allmende-Kontor auf der großen Freifläche des ehemaligen Flughafens Tempelhof.

Von außen betrachtet erinnert die Gartenanlage an den Trainingsplatz der Wilden Kerle. „Teufelsplatz“ heißt dieser im Film und ist dort ein von maroden Holzpfosten gesäumtes, nicht sehr einladendes, Gelände. Auch Assoziationen mit einem Schrottplatz kommen auf. Außerhalb der Gartenanlage stehen viele weiße Paletten, deren Lack definitiv bessere Tage gesehen hat. Dies soll also eine der grünen Lungen Berlins sein, eine „ökologische Alternative für versiegelte Flächen, Brachen und Abstandsgrün“, so heißt es im Manifest des Almende Kontor e. V.

„Life is stressfull sometimes“ – aber nicht hier und heute.

Beim Betreten der Anlage sticht vor allem eines ins Auge: unzählige Slogans. Schriftzüge auf blauen Regentonnen, schwarzen Mülleimern, grünen Bänken. „Faschismus an der Wurzel packen“, „The High Clan 420“ und „solidarity will win“ geben erste Einblicke über politisch-gesellschaftliche Ansichten der hier Pflanzenden. „100% Tempelhofer Feld“, „Hier kannst du was erleben“ und „#geilballern“ klingen abenteuerlicher als das ganze Szenario bislang erscheint. Viele Menschen zieht es heute nicht zu ihren Beeten, die bunten Wimpel flattern einsam im Wind. Sind die einengenden Stadtwohnungen etwa doch attraktiver als ein Ausflug ins Grüne?

Bislang mehr Möbel als Menschen in Sicht.

Dabei floriert der urbane Gartenbau seit einigen Jahren. Das Konzept ist gleichermaßen simpel und effizient: Städtische Flächen werden bepflanzt, nachhaltig bewirtschaftet, die Erzeugnisse bewusst konsumiert. Da die Städte immer weiterwachsen, die Anbauflächen jedoch schrumpfen, sind zusätzliche Grünflächen für die heimische Bevölkerung von großer Bedeutung. Berlin beherbergt mehr als 200 Gemeinschaftsgärten. Die Hauptstadt kann also mehr als Großstadtdschungel und Betonklotz.

Ein bunter Farbklecks im sonst noch wenig Grünen

Bei Urban Gardening – so die hipper klingende englische Bezeichnung des Gartenbaus – denken viele Menschen an akribisch gepflegte Schrebergärten, an glückselige Rentner*innen, die bei Sturm und Regen liebevoll ihre Frühblüher in die Erde setzen und anschließend bei einer Tasse Tee am Beet die Seele baumeln lassen. Oder aber alternative Studierende, die zu rhythmischer Reggae-Musik kleine Marihuana-Pflanzen in die Erde setzen. Diese Klischee-Klientel ist heute nicht in Sicht. Stattdessen viel Geäst, einige violette Hyazinthen und gelbe Narzissen, wenig Grünes, und hier und dort blaue Ikea-Beutel oder ein umgekippter Plastikstuhl.

Der Blick fällt auf zwei pinke Gießkannen, die mit einem bunten Zahlenschloss ans Hochbeet angeschlossen sind. Was mag wohl die Ursache sein – starker Wind oder hohe Diebstahlrate? Vandalismus scheint auf jeden Fall ein Thema zu sein, wie eine junge Frau erzählt. Ihr Rat: „Keine Erdbeeren oder Tomaten anpflanzen, besser Grünkohl, den niemand kennt, als einen Kürbis, auf den man ewig wartet.“

Ist das Kunst oder kann das gestohlen werden?

Neben einem gefüllten Kippenglas treffe ich Anastasia* und Emily*. 19 und 24 Jahre alt, gescheiterte Sportstudentinnen, jetzt Bar-Promoterinnen, verkatert auf der Flucht vor ihrem Chef. „Hauptberuflich sind wir arbeitslos“, Anastasia lacht und meint, das könne gerne so zitiert werden. Sie ziehe nun ein Studium der Pferdewissenschaften in Betracht, da sie „auf Pferdemädchen steht“. Berlin als Stadt empfindet sie als „asozial und dreckig“. „Aber hier ist es friedlich und links-autonom-radikal, das gefällt mir.“ Auch, wenn die Anlage etwas struppig sei.

Emily ist selbst ambitionierte Hobby-Gärtnerin. Auf ihrem Balkon wachsen Paprika, Rosmarin und Thymian. Das Berliner Allmende-Kontor sei ideal für all die städtischen Menschen ohne Rückzugsort. „Wie ein kleiner Garten Eden, ein Paradies“. Das mehr oder weniger grüne Land rufe in ihr ein Gefühl der Heimat hervor. Gebürtig kommt sie aus einem Dreihundert-Einwohner-Dorf im Saarland.

Während Anastasia ihren verwischten Liedschatten zu retten versucht, räkelt sich Emily gemütlich auf der maroden Holzbank, wo sie ausgestreckt gen Himmel blickt. Sie geht sogar so weit, dass sie die Gartenanlage als die „wahre Essenz unserer Erde“ sieht. Ihre Freundin ergänzt: „Ja, eine Großstadtoase, die Lunge Berlins.“ Anscheinend bewirkt die bloße Aura der Gartenkräuter wahre Euphorie. Insbesondere Anastasia fühlt sich ihnen verbunden: „Ich rede gerne mit Pflanzen, nicht nur, wenn ich high bin.“ Emily wartet noch auf ihren Adam.

„Die Wurzeln sind frei“ – fernab vom Alltagstrubel und Großstadtlärm

Ob göttlich oder nicht, es scheint, als bringe Urban Gardening die verschiedensten Menschen zusammen. Berliner*innen kommen zum Allmende Kontor, um sich heimisch zu fühlen, sich eine Auszeit vom städtischen Wirrwarr zu nehmen, eigene Pflanzen gedeihen zu lassen – oder eben, weil sie Zuflucht vor ihrem Vorgesetzen suchen. Trotz unterschiedlichster Motive für ein eigenen Hochbeet verbindet die Menschen hier eines: Sie sind Teil eines Kollektivs, das Wert auf Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und persönliche Freiheit legt.

Passend dazu hängt an einer Linde ein Text mit dem Titel „Die Wurzeln sind frei“ nach dem Originalsong „Die Gedanken sind frei“, einem alten deutschen Volkslied. Ich für meinen Teil stolperte an diesem Tag über mehr als eine Wurzel. Aber es hat sich gelohnt.

* Namen geändert

Fotos: Lisa Hofmann

Lisa Hofmann

Lisa Hofmann ist 19 Jahre alt. Nach ihrem Abitur 2021 zog sie von Lüneburg nach Köln, um dort im Rahmen eines FSJ Kultur beim WDR zu arbeiten. Neben ihrer Arbeit in der Musikredaktion moderiert sie den Podcast „Kulturpunsch“ der Freiwilligendienste Kultur und Bildung in NRW.
Lisas Text ist im Rahmen des JPN-Reportageseminars vom 1.-3. April 2022 in Berlin entstanden.

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