blog.jungepresse.de
Ein Aktivist von Scientist Rebellion duckt sich weg um dem angedrohten Schlag einer Polizistin auszuweichen, die ihm gegenübersteht. Im Hintergrund sind der dunkle Himmel über Lützerath, einige Polizist:innen und ein Gefangenentransporter zu sehen.

Wir sind mehr – kommt alle her!

Was im Protest um Lützerath geboren ist, wird Klimaschutzverweigernden in Zukunft Probleme bereiten.

Der Wind peitscht mir ins Gesicht, der Schlamm schlürft an meinen Schuhen und versucht sie unter die Erde zu ziehen und der unablässige Regen sorgt dafür, dass ich meine Kamera ständig unter meine Jacke stecken muss (wenn ich gerade kein Foto mache). Trotz des schlechten Wetters machen es mir und einigen Aktivist*innen, die ich hier heute begleite, zehntausende Menschen gleich:

Menschen soweit das Auge reicht 

An diesem Samstag, dem 14. Januar, ziehen nach Angaben der Veranstalter*innen 35.000 Menschen durch die Ortschaften vor Lützerath und bekunden ihre Solidarität mit der Besetzung des verlassenen Dorfes. Während die Lage für die Aktivist*innen über die letzten Tage schon aussichtslos schien, machten die Tunnelbesetzer Pinky und Brain, die die Besetzung bis zum Startzeitpunkt der Demonstration halten konnten, der Bewegung neuen Mut. So war eigentlich allen klar, dass es an diesem Tag den Versuch geben würde, in das Dorf einzudringen. Bereits als ich in Keyenberg, dem Ort an dem die Demo startet, ankomme, gibt es die ersten Infos über einen Teil der Demonstration, der nun in Richtung Lützerath unterwegs sei. Mehrere Hundert sollen sich dem unkontrollierten Marsch sofort angeschlossen haben. 

„Viele hier waren anscheinend noch nie auf einer Demo.“

Eine Aktivistin

Die Demonstration setzt sich eine Stunde später als geplant in Bewegung, muss aber immer wieder stoppen. Denn durch die engen Gassen der Örtchen zu gelangen, ist als große Menschenmasse schwierig. Immer wieder werden Sprechchöre angestimmt. „What do we want? – Climate Justice! When do we want it? – Now!” oder “Lützi? – Bleibt!” sind öfter zu hören. Auch „Jin, Jiyan, Azadi!”, ein Spruch der sich auf die feministischen Revolutionen im Iran und in Kurdistan beruft, ist nicht selten. Eine Aktivistin kommentiert die oft durcheinander gerufenen Sprüche lachend: „Viele hier waren anscheinend noch nie auf einer Demo.“ Das ist auch mein Eindruck. Selten habe ich eine Demo gesehen, die so breite Teile der Gesellschaft abbildete. Zu dem Marsch hatte schließlich ein breites Bündnis aufgerufen, Gruppierungen wie Ende Gelände über Fridays For Future bis zum BUND haben sich „Lützerath Unräumbar“ angeschlossen. 

Auch Menschen, die bereits in Gorleben gegen atomare Endlager demonstriert haben, sind zahlreich auf der Demo vertreten. Diese zentrale Aktion, sie wirkt wie ein großes Wiedersehen, ein Volksfest der Klima- und Umweltbewegung. Hier und da fallen sich Menschen in die Arme, die sich offensichtlich von vergangenen Lebensabschnitten kennen und nun hier wiedertreffen. Bereits vor der Demo betreten einige das RWE-Gelände und erklimmen gemeinsam einen Hügel um sich das Ausmaß der Kohlegrube anzusehen. Man stützt sich und bildet Ketten, um zu verhindern, dass andere im Schlick ausrutschen und die Wälle hinunterstürzen. Sie schauen gemeinsam in den Tagebau, ein Ort an dem die selbstzerstörerische Kraft des Menschen visuell greifbar wird. Ein Gefühl von Zusammenhalt liegt in der Luft: Man ist sich vielleicht in vielen Dingen nicht einig, aber alle wollen, dass Lützi bleibt.

Auf nach Lützerath!

Es soll jedoch nicht beim geschlossenen Zug bleiben. Als die Demo Keyenberg verlässt, wird die Situation dynamischer. Hektisch werden Informationen ausgetauscht. Auf dem freien Feld teilt sich dann der Demozug. Während einige weiter zur Kundgebung gehen, auf der Greta Thunberg in diesem Moment zu sprechen beginnt, strömen Tausende in Richtung Abbruchkante und damit aufs RWE-Gelände. Schnell entscheide ich mich, dem Strom zu folgen. Warnschilder, die einfach aus dem Boden gezogen wurden, liegen am schlammigen Straßenrand und drohen, durch nachfließendes Regenwasser schnell bedeckt zu werden. Am Horizont sind bereits jetzt zahlreiche Menschen auszumachen, die vor den Kohleanlagen stehen. 

Im Tross der Tausenden, die sich nun über das Feld an den Ort heranpirschen, macht sich Euphorie breit, denn die Polizeiketten scheinen von denen die bereits wenige hundert Meter vor dem Dorf stehen, weit zurückgedrängt geworden sein. Der Regen beginnt nachzulassen, weshalb ich meine Kamera auspacke und beginne die ersten freudigen „Lützi bleibt!“ Rufe aufzunehmen. Die euphorische Kulisse wird von einem Feuerwerk über dem Dorf untermalt. Jubel unter den Demonstrierenden macht sich breit: Die ersten Aktivist*innen sind wieder im Dorf. 

Wenige hundert Meter vor Lützerath befindet sich ein Wall, auf dem bis vor zwanzig Minuten noch eine Polizeihundertschaft gestanden haben soll. Nun rollt eine Welle von Menschen darüber. Allmählich habe ich mich durch den schmatzenden Schlamm an die Frontlinie gekämpft. Noch trennen ungefähr 250 Meter die Demonstrierenden von den Absperrungen rund um Lützerath, aber die Polizei weicht unter „Auf nach Lützerath!“-Rufen immer weiter zurück. Trotz der 8000 Polizist*innen, die aus ganz Deutschland zusammengezogen wurden (die Polizei Aachen hat diese Zahl mittlerweile auf ca. 3400 korrigiert) , scheint die Polizei machtlos bei der Masse an Menschen, die friedlich immer weiter auf das Dorf zugehen. Sie haken sich unter und formieren sich so in Ketten, Alte und Junge, mit Schlauchschal vermummt oder klar Gesicht zeigend, Familien mit Kind auf dem Arm. Ein Polizist schüttelt sein Pfefferspray. „Kein Pfeffer!“ ertönt es laut vom Einsatzleiter. Es ist vergebens. Von überall strömen Menschen auf das Feld vor Lützerath.

Sturm auf RWE

Die „Auf nach Lützerath!“-Rufe werden immer lauter. Einzelne Gruppen stimmen „Wir sind mehr – Kommt alle her!“ an und rufen damit dazu auf, über die Polizeiketten und die Zäune hinweg nach Lützerath zu stürmen. In den ersten Reihen ist man sich des Erfolges schon sicher und zündet Leuchtraketen. Einzelne beginnen, die Polizeihundertschaften mit Schlamm zu bewerfen und drängen sie damit bis an den Zaun zurück.

Die Polizei schlägt brutal zurück. Teils rennen sie einfach unangekündigt in die Menge und schlagen mit Schlagstöcken auf alle Körperteile, auf Hals und Kopf, ein. Die Demosanitäter*innen sprechen von unzähligen Verletzten, die teils ohne Rücksicht auf bleibende Verletzungen attackiert wurden. Und das Ziel, das zeigt sich schnell, sind nicht nur die vermeintlich extremistischen Vermummten – sondern alle die in diesem Moment vor dem Zaun stehen. Egal welchen Alters oder was sie im Vorfeld getan haben. 

Die Wut über diesen übertriebenen Einsatz sollte sich unter anderen an den am Straßenrand geparkten Polizeiwagen entladen, die bereits mit Schlamm beschmiert sind und einen erheblichen Mangel an intakten Seitenspiegeln aufweisen, als wir uns auf den Rückweg machen. Ich werfe einen letzten Blick zurück. Lützerath ist von Flutlichtscheinwerfern umringt und erhellt den rötlichen Abendhimmel, in das Bild mischt sich in von überall heranfahrendes Blaulicht und eine neue Regenfront. Mit dem wieder einbrechenden Regenwetter kommen auch mehr Polizeikräfte hinzu, die beginnen, das Feld zu räumen. Für einige wirkte die Rückeroberung des Dorfes so nah, nun scheint alles ausweglos. 

Breite Solidarität

An dieser Demonstration vor Lützerath haben sich viele beteiligt, linke Organisationen wie die Interventionistische Linke über Fridays For Future bis hin zu Einzelpersonen aller Gesellschaftsgruppen. Die Klimabewegung im Allgemeinen, selbst die bekannten Aktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer haben sich an diesem Tag kollektiv über Polizeianweisungen, über Beschlüsse von CDU und Grünen und die RWE Security hinweggesetzt und den Aufstand gewagt. Man darf nicht unterschätzen, was für ein Gefühl diese Demonstration vor Lützerath unter den Klimabewegten erzeugt hat. Eine breite Gruppe aus Organisationen hat sich mit den Demonstrierenden solidarisiert und sich gegen die übermäßige Polizeigewalt ausgesprochen. Selbst Menschen die oft unkritisch Polizeimeldungen vertrauen, heben hervor, dass vieles, was in der Berichterstattung immer wieder aufgegriffen wird, nicht der Wahrheit entspricht.

Ich habe das Gefühl, in Lützerath ist ein kollektiv rebellischer Geist entstanden, der in Zukunft als Klimabewegung auch zunehmend ungehorsam in Aktion treten wird. Denn eins ist klar: Die Bewegung ist vielleicht nicht, wie oft behauptet, in einer Sinnkrise, aber vielleicht in einer Aktionskrise. Die Schulstreiks von Fridays For Future sorgen für keine große Aufmerksamkeit mehr, da sie zum Alltag geworden sind und die bisherigen Aktionen der Letzten Generation hatten nicht genug Rückhalt aus der Gesamtgesellschaft. 

Diese nun riesige Demonstration um Lützerath und die Besetzung des Dorfes sowie der Sturm des Feldes haben der Bewegung eine riesige Aufmerksamkeit geschenkt und das Thema Klima auf Platz 1 der Agenda gesetzt. Sobald die Bewegung erkennt, dass sie sich mit Blockade, ungehorsamen Aktionen und Sabotage wieder vermehrt Gehör verschafft und Druck ausübt, wird das Aktionsbild der Aktivist*innen sich auch immer mehr dahin verschieben. Und angesichts der zu erwartenden Konsequenzen der Klimakrise kann das politische System froh sein, wenn es bei Straßenblockaden bleibt.

Luca Schneider

Luca Schneider ist 19 Jahre alt und macht aktuell ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Jungen Presse Niedersachsen. Er war als Schüler in einer Schüler*innenzeitung aktiv. Seine Lieblingsthemen sind Klima, soziale Bewegungen und (Jugend)kultur.

Kommentar schreiben

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Your Header Sidebar area is currently empty. Hurry up and add some widgets.