In den sozialen Medien und auf Demonstrationen werden Journalist*innen als Lügenpresse verunglimpft. Rund 70 Millionen US-Amerikaner*innen wollen einen Präsidenten wiederwählen, der in seiner ersten Amtszeit mehr als 25.000 Mal gelogen hat. Fake News und Verschwörungserzählung gehören zu den Modewörtern des vermeintlich postfaktischen Zeitalters. Was bedeutet das für den Journalismus – und was für die Demokratie?
Ungewöhnlich war es eigentlich nicht. Drei Tage nach der US-Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr tat Donald Trump ‘nur’ das, was er seit seinem Amtsantritt durchschnittlich 18 Mal am Tag tut. Trump log. Drei Tage nach der US-Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr trat der Präsident vor die Kameras und unterfütterte routinemäßig die haltlosen Behauptungen, die er seit Monaten verbreitet hatte: Wenn man nur die legalen Stimmen der Wahl zähle, gewinne er sie locker – jetzt kämen aber illegale dazu. Die Briefwahl sei manipuliert. Wahlbeobachter*innen würden ferngehalten, das Wahlsystem sei korrupt. Doch dieses Mal unterbrachen zahlreiche Sender die Live-Übertragung aus dem Weißen Haus. Was der Präsident erzähle, “is absolutely untrue”, hielt CNBC-Moderator Shepard Smith fest. “Das hier ist der Präsident der Vereinigten Staaten”, hechelte ein anderer Anchorman ins Mikrofon. Fast, als überrasche ihn Trumps Verhalten. Mehr als 25.000 nachweisliche Falschaussagen konnte die Washington Post Trump während seiner Amtszeit nachweisen.
Doch nicht allein das ist erschreckend: Rund 70 Millionen Wahlberechtigte gaben Trump ihre Stimme für eine zweite Amtszeit – nie zuvor konnte ein republikanischer Kandidat so viele Wähler*innen hinter sich vereinen. Und auch wenn viele Medien Trump die Reichweite verweigerten und Twitter und Facebook seine Posts mit Warnhinweisen versahen, brüllten verstörte Anhänger*innen des Noch-Präsidenten dessen vermeintlich wahre Botschaften weiter in die Mikrofone zahlreicher Journalist*innen. Andere protestierten – teils schwer bewaffnet – vor den Wahllokalen gegen eine Auszählung, bei der internationale Beobachter*innen keine nennenswerten Unregelmäßigkeiten feststellen konnten. Viele Mitglieder der Republikanischen Partei sagten sich selbst Wochen nach Trumps feststehender Niederlage nicht oder nur mühsam von ihm los.
Verschwörungserzählungen sind auch in Deutschland populär
Auch wenn wir in Deutschland solche Szenen etwa zur Bundestagswahl in diesem Jahr wohl nicht befürchten müssen: Vergleichbare Entwicklungen gibt es auch hierzulande. Zuerst mag man über Michael Wendler lachen, der der Bundesregierung schwerwiegende Verstöße gegen die Verfassung und (!) das Grundgesetz attestiert. Oder sich schmunzelnd ein paar Illuminat*innen vorstellen, die auf der dunklen Seite des Mondes ein paar elitengewordene Echsenmenschen kontrollieren. Oder amerikanische Regierungsvertreter*innen, die bei der vermeintlich inszenierten Mondlandung hinter der Kamera stehen und Anweisungen erteilen. Doch Verschwörungserzählungen können auch gefährliche Auswirkungen haben. Spätestens seit dem Erstarken von Pegida und der AfD werden Journalist*innen regelmäßig als „Lügenpresse” verunglimpft und immer wieder körperlich angegriffen. Der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gehört den Reichsbürger*innen an – diese Bewegung behauptet, die Bundesrepublik existiere nicht. Rassismus und Antisemitismus finden erschreckend viel Zustimmung in der Gesellschaft. Menschen, die Corona für erfunden halten und auf Demonstrationen ohne Abstand und Maske herumlaufen, unterlaufen den demokratischen Streit über die richtigen Maßnahmen. Viele Menschen, die sich in der Öffentlichkeit politisch äußern, erhalten Morddrohungen. Aus Worten werden Taten – und oft genug stecken die Taten schon in den Worten selbst. Doch wieso verbreiten sich Verschwörungserzählungen so schnell, wie sind Fake News zum politischen Kampfbegriff geworden?
Nein, Fake News sind nicht einfach nur Gerüchte
Wer diese Fragen stellt, bekommt oft Antworten, die das Problem relativieren: Verschwörungserzählungen habe es immer schon gegeben. Und Fake News habe man früher einfach Gerüchte genannt. Doch das löst die Probleme ja nicht – und greift auch etwas zu kurz. Wer Desinformationen erfindet, bezieht sie – anders als Gerüchte – schließlich nicht aus unsicherer Quelle, sondern aus gar keiner. Außerdem ist nicht unklar, ob sie sich bewahrheiten oder als falsch herausstellen. Sie sind falsch, aber das ist gewollt. Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen haben sich im internationalen Forschungsnetzwerk Compact (Comparative Analysis of Conspiracy Theories) zusammengeschlossen, um Verschwörungserzählungen genauer zu untersuchen. Den Forscher*innen zufolge verfallen Menschen vor allem deshalb Verschwörungserzählungen, weil diese auf unterschiedliche Weise ihre Identität bestärken: Indem die Erzählungen Chaos und Zufälle ausschließen, wirkt die Welt auf Verschwörungsgläubige begreifbar. Wer an Verschwörungserzählungen glaubt, fühlt sich sicherer. Unklares wirkt plötzlich logisch. Auch lässt sich Unrecht und Schlechtes in der Welt einfach erklären: Kaum etwas scheint noch abstrakt oder kompliziert. Stattdessen passiert alles aus einem Grund: Bestimmte Menschen sind für bestimmte Missstände und Ereignisse verantwortlich – und man selbst ist zugleich machtlos und trägt überhaupt keine Verantwortung.
Hinzu kommt, dass sich Menschen vom gesellschaftlichen Mainstream abheben können – sie fühlen sich schlauer als die Masse, das stärkt auch den Zusammenhalt unter Verschwörungsgläubigen. Und noch eine weitere Funktion schreiben die Forscher*innen den Verschwörungserzählungen zu: Sie können auch als Mittel verstanden werden, soziale Unzufriedenheit und Kritik zu äußern. Glauben Menschen einmal an eine Verschwörungserzählung, wird es schwer, sie wieder davon abzubringen. Einen der Mechanismen, die dafür sorgen, bezeichnen Psycholog*innen als Confirmation Bias (auf Deutsch Bestätigungsfehler). Wir neigen dazu, Informationen besonders ernst zu nehmen, die ohnehin in unser bisheriges Weltbild passen. Wie anfällig dafür selbst Menschen sind, die sich besonders der Wahrheit verschreiben und in weiten Teilen der Gesellschaft als extrem glaubwürdig gelten, hat 2018 das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL erfahren müssen: Deren Redakteur Claas Relotius hatte die Inhalte zahlreicher Artikel über Jahre hinweg schlicht erfunden – vor der Entlarvung galten seine Texte als brillant, Relotius räumte zahlreiche Reporter*innenpreise ab. Das gelang ihm, obwohl der Spiegel eine deutschlandweit einzigartige Dokumentationsabteilung unterhält, die jede Information in den Artikeln penibel prüft. Und auf einer Wand des Spiegel-Verlagshauses am Hamburger Elbufer ist ein Credo des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein zu lesen: „Sagen, was ist.”
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung?
Allerdings: Verschwörungserzählungen sind tatsächlich kein neues Phänomen – Compact zufolge reichen sie bis in die Frühe Neuzeit Europas zurück. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie demnach bis in alle Welt in die Mitte der Gesellschaft verbreitet und akzeptiert. Danach wurden sie in westlichen Staaten stigmatisiert. In manchen Ländern betrachte man sie bis heute als „legitime Wissensform”, stellen die Forscher*innen in ihrem Leitfaden Verschwörungstheorien fest.
Ob die Verschwörungserzählungen vor allem durch die Digitalisierung neuen Aufschwung bekommen, ist wissenschaftlich nicht klar belegt. Einiges spricht aber dafür: Jede*r kann im Netz weitgehend ungefiltert Informationen verbreiten. Und nach dem Motto „Suchet und ihr werdet finden” gibt es im World Wide Web leider nicht nur Nerd-Communitys zu Modellbau, Modetrends oder Mährobotern, sondern eben auch zu noch so kruden Narrativen von ‘der’ vermeintlichen Wahrheit über die Welt. Sogenannte Filterblasen verstärken den Confirmation Bias dann möglicherweise: Menschen, die in sozialen Netzwerken auf Websites mit Verschwörungserzählungen klicken, bekommen mehr davon angezeigt und verbringen wiederum mehr Zeit damit. Sie treffen auf andere Anhänger*innen dieser Erzählungen und fühlen sich zunehmend bestätigt.
Tech-Giganten wie Facebook und Google wollen daran nicht unbedingt etwas ändern – denn je mehr Zeit die Nutzer*innen mit ihren Angeboten verbringen, desto mehr Geld verdienen sie letztlich. Klar ist auch: Emotionsgeladene Desinformationen und postfaktische Empörung erzeugen besonders digital viel Aufmerksamkeit. Sie sind für manche interessanter als ihre nüchterne journalistische Enttarnung. Die Netflix-Dokumentation „Das Dilemma mit den sozialen Medien“ verdeutlicht die Gefahren sehr eindrücklich, die von den Mechanismen der sozialen Netzwerke ausgehen. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat dafür einen Begriff gefunden: Er bezeichnet unsere moderne Gesellschaft in seinem gleichnamigen Buch als “Gesellschaft der Singularitäten”. Seiner Ansicht nach bringt die Gesellschaft heutzutage vor allem Einzigartigkeiten hervor – anstelle von Allgemeinem. Das sehe man auch in den sozialen Medien.
Auch Vielfalt erfordert Gemeinsamkeiten
Dass heute mehr gesellschaftliche Gruppen öffentlich zu Wort kommen, ist ein großartiger Fortschritt – eigentlich. Gefährlich wird es, wenn es in all der Vielfalt und Einzigartigkeit nichts Allgemeines mehr gibt, keine Einigkeit über Fakten. In den USA wurde das besonders zur Präsidentschaftswahl spürbar. Das ist für Demokratien gefährlich: Politikwissenschaftlichen Studien zufolge bestehen demokratische Staaten unter anderem, wenn der zivilgesellschaftliche Zusammenhalt ausgeprägt ist und sich die gewählten politischen Akteur*innen über demokratische und rechtsstaatliche Spielregeln einig sind.
Der frühere Bundesverfassungrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte das auf die berühmt gewordene Formel, ein freiheitlicher und säkularisierter Staat lebe von „Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Medien tun bereits einiges, um Desinformationen zu entlarven. Sie veröffentlichen regelmäßig Faktenchecks, in denen sie im Netz kursierende Informationen kritisch prüfen. Twitter und Facebook behaupteten lange, nicht für die Inhalte auf ihren Plattformen verantwortlich zu sein – nach der US-Wahl versahen sie Donald Trumps Lügen mit Warnhinweisen, immerhin. Dennoch erreichten seine Posts nach wie vor Millionen Menschen.
Die Konzerne gehen also nach wie vor zu zaghaft mit Desinformationen und deren großer Reichweite um. Dabei könnten und sollten sie die gesellschaftliche Ächtung von Desinformationen aufrechterhalten, gerade mit ihrer Macht dürfen und sollten sie genauso Haltung beweisen wie viele mutige Menschen es bereits tun. In der Auseinandersetzung mit Verschwörungserzählungen ließe sich darüber hinaus zum Beispiel in der Schule ansetzen. Was sollte ein gutes Bildungssystem leisten, wenn nicht Menschen beibringen, kritisch zu denken, Mythen zu entlarven und Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden? Lehrpläne in Politik, Deutsch oder Geschichte bieten durchaus Ansätze, um sich mit dem Thema zu beschäftigen. Auch Wissenschaftler*innen müssen weiter erforschen, wie sich Verschwörungstheorien wirksam entkräften lassen. Politische Entscheidungstragende können nicht einfach die Wahrheit erlauben und Lügen verbieten. Wie wir aus dystopischen Romanen und der düsteren Realität in vielen Diktaturen wissen, wäre das falsch – und zum Glück wohl kaum umsetzbar. Aus sehr guten Gründen ist die Meinungsfreiheit eines der am höchsten geschützten Grundrechte unserer Verfassung. Auch Blödsinn verbreiten bleibt damit oft legal.
Wenn Politiker*innen allerdings auf die verschiedenen Funktionen blicken, die Verschwörungserzählungen den Compact-Forscher*innen zufolge haben, können sie an einer Stelle schon ansetzen: bei der Bekämpfung der Missstände, auf die Verschwörungsgläubige mit ihren erfundenen Erzählungen und Desinformationen aufmerksam machen. Eine Mammutaufgabe, keine Frage. Aber auch ein Fingerzeig in eine bessere Zukunft.
Was unterscheidet Fake News von Verschwörungserzählungen?
Fake News und Verschwörungserzählungen sind nicht das gleiche – sie können aber zusammenhängen. Verschwörungserzählungen sind eine Art abstrakter Filter, der Menschen anders auf ihre konkrete Umgebung blicken lässt, wenn sie ihnen verfallen sind. Häufig unterstellen sie „bestimmten mächtigen Personen oder Gruppen, dass sie im Geheimen der Gesellschaft schaden wollen”, schreibt das WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks. Außerdem bedienen sie oft Jahrhunderte alte rassistische oder antisemitische Narrative – häufig sind das die eines großen Bevölkerungsaustauschs oder einer jüdischen Weltverschwörung. In vielem, was wirklich passiert, erkennen Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen dann vermeintliche Muster wieder.Fake News sind manipulierende und erfundene Falschinformationen, oft im Stile seriöser Nachrichten. Sie können auf Verschwörungserzählungen aufbauen, aber auch einfach so frei erfunden sein, um eine bestimmte Wunschvorstellung zu unterfüttern oder ein wirtschaftliches Ziel. Klatschmedien, die Helene Fischer mal wieder eine Schwangerschaft unterstellen, fürchten dahinter nicht automatisch eine geheime Elite. Fake News verbreiten sie wohl trotzdem.
Beitragsbild von Kid Circus auf Unsplash
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