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Das Waldhaus in Bad Salzdetfurth

Heim-Weh

Verschickt, verletzt, vergessen – für zahlreiche Kinder war der Aufenthalt in einem Kurheim nicht erholend, sondern traumatisierend. Jahrelang wurde totgeschwiegen, was auf den Kuren wirklich geschah. Nun sprechen Betroffene darüber. Sabine Schwemm und Christian Kuhlmann* sind zwei von Millionen von Verschickungskindern.

Die Kinderverschickung in der BRD fand in der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre hinein statt. Etwa acht bis zwölf Millionen Kinder wurden zu Kinderkuren in Kurheime “verschickt”. Vor allem kranken oder unterernährten Kindern wurde eine Kur verschrieben. In drei bis sechs Wochen sollten sie sich erholen und Spaß haben. Stattdessen erlebten Viele die Heimzeit als traumatisierend. Der Umgang mit den Kindern war durch harte Erziehungsweisen geprägt – und in vielen Fällen durch körperliche und psychische Gewalt. Es kam mehrfach zu Todesfällen. Vereinzelt wurde bewiesen, dass in den Kurheimen eine Erziehung im Sinne der NS-Ideologie fortgeführt wurde. Träger+innen der Heime waren entweder Privatpersonen oder kirchliche und Wohlfahrtsorganisationen, manchmal auch Betriebs- und Kranken-Versicherungsorganisationen. Die “Initiative Verschickungskinder” setzt sich für die Aufklärung der Kinderverschickung ein. 

Sabine

Sommer in Bad Salzdetfurth

“Ich bin ein Verschickungskind”, sagt Sabine Schwemm. Den Sommer 1968 verbrachte die damals Vierjährige im Waldhaus, einem Kurheim in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim. Eigentlich sollte sie sich während der Kur erholen, mit anderen Kindern spielen und an Gewicht zunehmen. Das hatte man ihren Eltern zumindest versprochen. Als sie zurückkommt, hat sie jedoch nicht zu-, sondern abgenommen. Sie spricht kaum über das, was sie in dem Heim erlebt hat. Sie verdrängt jeglichen Gedanken an die Schikanen und die Gewalt, die ihr widerfahren sind – bis sie vor drei Jahren auf einen Blog stößt, der anhand von Erlebnisberichten über die Kinderverschickungen in der Nachkriegszeit aufklärt und zur Vernetzung der Verschickungskinder dient. Die Buchautorin Anja Röhl hat ihn erstellt, sie wurde selbst verschickt. Mittlerweile hat auch Sabine ihre Geschichte dort geteilt. 

“Liebe Mutti, lieber Vati: aus Bad Salzdetfurth sende ich euch die herzlichsten Grüße. Ich bin hier gut angekommen. Die Fahrt war herrlich. Die anderen Kinder in der Gruppe sind auch alle sehr nett. Das Essen schmeckt gut. Nochmals viele Grüße, eure Sabine”, liest Sabine vor.

Selbst geschrieben hat sie die Postkarte nicht. Eine der Heim-Betreuerinnen schickte sie ihren Eltern damals in ihrem Namen. Sabine zieht die Augenbrauen hoch. “Ich war damals vier Jahre alt, ich konnte diese Karte nicht allein geschrieben haben. Nichts von dem, was hier steht, ist wahr.” Ihre Eltern ahnten damals nichts.

Sabine hat als Verschickungskind traumatisierende Erfahrungen gemacht, die sie noch immer beschäftigen. Heute setzt sie sich für die Aufklärung der Kinderverschickung ein. 

Drangsaliert, ausgeliefert und allein

Sie erzählt von ihrer Zeit im Waldhaus: Die damals Vierjährige litt unter den anderen Kindern, die fast alle größer, älter und dementsprechend stärker als sie waren: “Die haben mich drangsaliert.” Sie nahmen ihr ihre Sachen weg, hielten sie fest, nahmen ihr auch einmal ihren Teddy weg. Sie rissen ihm die Augen aus und warfen sie aus dem Fenster. “Ich habe dann ganz furchtbar geschrien, aber niemand hat mir geholfen.” Die Betreuerinnen kümmerten sich nicht um sie.

Sabine lebte in ständiger Angst vor den anderen Kindern – und vor den sogenannten “Tanten”, ihren Betreuerinnen.

Bestrafungen für jede Kleinigkeit standen auf der Tagesordnung. Nachts machte sie aus Angst oft ins Bett und wurde dafür bestraft. “Ich musste dann stundenlang in dem kalten Waschraum in der Ecke stehen.” Für die Betreuerinnen findet Sabine keine anderen Worte als “kaltherzig, grausam und verständnislos.” 

Vor allem eine Situation hat sich in Sabines Gedächtnis eingebrannt: Sie benutzte einmal heimlich eine Toilette im Keller, weil sie dringend musste. Hätte sie sich in die Hose gemacht, wäre sie bestraft worden. Aber die Toilette hätte sie auch nicht benutzen dürfen, sie war dem Personal vorbehalten. Das ließen die Betreuerinnen Sabine deutlich spüren: “Sie haben mich gegriffen, übers Knie gelegt und mir den Hintern versohlt. Danach wurde ich stundenlang in einen Kellerraum eingesperrt und durfte nichts essen.” Die Betreuerinnen sagten, dass sie nie wieder nach Hause dürfe: “Ich dachte damals, mein Leben ist vorbei und ich sehe meine Familie nie wieder.” 

Zu Ende, aber nicht vorbei

Was danach passierte und wie sie wieder nach Hause kam, weiß Sabine nicht mehr. Ihre Erinnerungen sind wie ausgelöscht. Ihren Eltern erzählte sie damals kaum von ihrer Heimzeit, aus Angst davor, wieder bestraft zu werden. “Die hatten mir in dem Heim eingeredet, dass ich ein schlechter Mensch bin und Strafe verdiene.” Jahrelang dachte Sabine, mit ihrer Erfahrung allein zu sein und mit niemandem darüber sprechen zu können: “Ich habe das alles ganz tief in mir eingegraben.” Nur einer Freundin erzählte sie von der Zeit im Waldhaus. Aber die habe sie nicht verstanden. Erst Anja Röhls Blog zeigte ihr, dass es viele Menschen gibt, die auf den Kuren ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Bestärkt durch den Austausch mit den Anderen setzt sich Sabine heute für die “Initiative Verschickungskinder” ein, die aus dem Blog hervorging. Sie will helfen, die Kinderverschickungen aufklären und setzt sich daher bewusst immer wieder mit ihrer eigenen Heimerfahrung auseinander. Im Archiv in Hannover schaute sie sich die Waldhaus-Akte an. Darin liest sie, dass dort drei Kinder gestorben sind. Zwei Kinder sind mit Essensresten in der Speiseröhre tot aufgefunden worden. Sie sind vermutlich erstickt.

Ein kleiner Junge wurde von den anderen Kindern mit einem abgerissenen Hockerbein erschlagen. Letzteres wusste Sabine schon. Sie hat einen alten Zeitungsartikel aufgehoben, in dem der Fall geschildert wurde. Er ist etwa ein halbes Jahr, nachdem Sabine selbst in dem Heim war, erschienen. “Immer, wenn ich diesen Artikel lese, nimmt es mich noch mit”, sagt sie.

Man sei der Gewalt in dem Heim ausgeliefert gewesen, niemand habe den Kindern geholfen. Dieser Fall habe ihr aber auch gezeigt, dass sie noch glimpflich davongekommen sei. “Es gab Kinder, die gar nicht mehr zurückgekommen sind.” 

Sabine hat sich letztes Jahr entschieden, noch einmal nach Bad Salzdetfurth zu fahren. “Als ich wieder da stand, wurde mir klar, dass das früher war und heute eine neue Zeit ist. Ich bin nicht mehr das kleine Kind von gestern, heute kann ich mich wehren, heute kann ich dabei helfen, das alles aufzuklären.” 

Christian

Tägliche Erniedrigung

Christian steht mit dem Gesicht zur Wand, auf Anordnung der Betreuerinnen. Er weiß, dass die anderen Kinder gleich über ihn herziehen werden. Über den, der ins Bett gepinkelt hat. Das ist schon mehr als 60 Jahre her. Trotzdem lässt die Erinnerung ihn nicht los.

“Auch jetzt schnürt es mir wieder den Hals ab”, sagt Christian. Er hält kurz inne, nimmt sich ein Glas Wasser. Dann erzählt er weiter, was er in seinem zehnten Lebensjahr erlebt hat. 1957 wurde er als Junge nach Bad Salzdetfurth zur Kur verschickt. Die Erinnerungen an seine vier Wochen im Haus Sonnenblick trug er jahrelang allein mit sich herum. Vor allem ein Gefühl hat ihn begleitet: Scham.

Die Scham begann schon früh. Als Kind war Christian klein und unterernährt. In der Schule bekam er kostenlos Milch und Kakao,„wie alle, die es nicht richtig drauf hatten.“ Dazu gab es Hänseleien. Er vermutet, dass man ihn zum Zunehmen nach Bad Salzdetfurth geschickt hat. Gefragt, ob er das möchte, hat man ihn nicht. Seine Mutter brachte ihn zum Bus. Mit ihm fuhren noch andere Kinder aus Celle, viele hatten Süßigkeiten dabei. Als sie beim Haus Sonnenblick ankamen, wurden sie ihnen abgenommen. „Da hat man nie wieder was von gesehen“, sagt Christian.

Das Erinnern fällt ihm schwer. Über die Jahre sind die Erinnerungen an die Wochen in Bruchstücke zerfallen. Das Frühstück ist zum Beispiel ganz aus seinem Gedächtnis verschwunden. „Aber manche Dinge kann man einfach nicht vergessen“, sagt er. Er nimmt noch einen Schluck Wasser. Dann erzählt er von dem Mittagsschlaf. Direkt nach dem Essen ging es vom Speisesaal in den Schlafsaal, 25 Jungen auf ein Zimmer: „Wir mussten uns hinlegen, wir durften nicht reden, uns nicht bewegen.” Einmal hat er sich gemeldet und gefragt, ob er zur Toilette gehen dürfe. Aber er musste liegen bleiben. “Man kann sich vorstellen, was dann passiert. Man liegt da, man muss, dann geht es ins Bett.“ Im Heim erhielt er statt Verständnis eine Strafe. Er musste sich vor allen an die Wand stellen. 

Zu Hause konnte er sich niemandem öffnen. Seine Mutter war oft krank, sein Vater arbeitete. Er befürchtete, dass seine Brüder sich nur über ihn, „den Bettnässer“, lustig machen würden. Auch gegenüber Freunden blieb er still. Er wollte sich nicht als der outen, der ins Bett gepinkelt hat. “Damit macht man ja keine Reklame.” Die Erlebnisse aus dem Heim prägen den Jungen. „Manchmal, wenn ich als Jugendlicher nach Hause gekommen bin, brauchte ich nur die Speisekammer öffnen, riechen und war schon satt“, sagt Christian. Das sei vermutlich eine Nachwirkung seiner Heimzeit: Zum Essen gab es dort häufig grünen, halb vergammelten Salat und dicken Grießbrei mit Öl. Auf dem Teller durfte kein Rest bleiben, daher musste Christian sich oft übergeben. Es dauerte viele Jahre, bis er wieder grünen Salat essen konnte. 

Vertrauenspersonen hat er in seiner Kurzeit nicht gefunden. Das Leid verband die Kinder nicht. Stattdessen machten sich die Anderen über ihn lustig: “Heute würde man das wohl Mobbing nennen.”

Die Aufarbeitung beginnt

Erst als immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch wie der in der katholischen Kirche in die Medien kamen, fand Christian den Mut, sich zu öffnen. Seinen Kindern erzählte er als erstes von seiner Erfahrung, sie waren damals schon 46 und 48 Jahre alt. Mittlerweile ist er erwachsen und gewachsen, nicht mehr der kleine Junge. “1,76 habe ich gemessen.” Den Blog von Anja Röhl fand er durch Zufall im Internet.

Dass er sich heute wieder an mehr aus seiner Heimzeit erinnern kann, liegt an regionalen Treffen mit den anderen Verschickungskindern. Einmal im Monat kommen sie im Rahmen einer Selbsthilfegruppe zusammen und tauschen sich aus. Auch wenn aus seinem Heim niemand dabei ist, helfen ihm die Kontakte. Wenn jemand Neues dazustößt, teilt der Mensch seine Geschichte. Häufig tauchen Gemeinsamkeiten auf. „Man merkt dann häufig: Bei mir war das doch auch so“, sagt Christian. Anschließend überlegen sie, wie sie ihre Erfahrungen bekannter machen können. Er wünscht sich vor allem Anerkennung. „Ich möchte doch nichts rausschlagen“, meint er kopfschüttelnd, finanzielle Entschädigung spiele für ihn keine Rolle. Wichtig sei ihm nur, dass es aufgearbeitet werde.

Das Schweigen ist gebrochen

Vor kurzem war er nochmal beim Haus Sonnenblick. Erleichterung habe es ihm nicht verschafft. In dem Gebäude ist heute eine Schule, wegen Corona war ihm das Betreten untersagt. Gerne hätte er sich noch einmal den Schlafsaal oder den Speiseraum angeschaut. Vielleicht wären dann noch ein paar Erinnerungen hochgekommen.

Es hilft ihm, über seine Heimzeit zu reden. „Von Mal zu Mal wird es einfacher“, sagt er. Besonders erleichtert habe es ihn, vor seiner Frau und den Kindern das Schweigen gebrochen zu haben. Auf seine Familie ist er stolz, er erzählt gerne von seinen Kindern, Enkelkindern und Urenkeln. 

Wenn er könnte, würde er diese drei Wochen seines Lebens vergessen. Scham empfindet er keine mehr: „Heute kann ich dazu stehen und sagen: ja, das war so.“

* Der Name wurde auf Wunsch des Betroffenen von der Redaktion geändert.

Quelle Bilder: privat

Lima Fritsche und Anna Abraham

Lima Fritsche ist die aktuelle FSJlerin der Jungen Presse Niedersachsen. Anna Abraham macht gerade ihr Abitur und ist nebenbei journalistisch tätig.

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