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Kirche

Lebensverlängernde Maßnahme

Die evangelische und katholische Kirche bestimmen das gesellschaftliche Leben und die Politik maßgeblich mit. In den Corona-Ausnahmeregelungen zu Weihnachten wurde der enorme Einfluss zuletzt sichtbar. Dies scheint legitim, bekennen sich doch mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen zum christlichen Glauben. Doch die Taufe von Babys und Kleinkindern ohne deren Zustimmung bildet das Fundament für einen Machtanspruch, für den es ohne diese Praxis längst keinen Rückhalt mehr gäbe.

An die eigene Taufe können sich die allermeisten Christ*innen nicht erinnern. Kein Wunder, denn die meisten Christ*innen treten im Baby- oder Kleinkindalter offiziell in die evangelische oder katholische Kirche mit dem Ritus ein. Fast drei von fünf evangelisch Getauften im Jahr 2018 waren laut der offiziellen Statistik der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) Babys, also nicht einmal ein Jahr alt. Nur jedes zehnte neue Kirchenmitglied war 14 Jahre oder älter. Bei den Katholiken sind die Täuflinge sogar im Schnitt noch jünger – mit mehr als drei Jahren treten hier kaum noch Gläubige ein.

Zustimmen zu ihrer eigenen Taufe konnten diese Kinder nicht. Wie auch, wenn sie kaum erste Worte sprechen konnten, geschweige denn, sich über einen Gott und ihren Glauben Gedanken machen. Dies ist der Normalfall in Deutschland, und rechtlich erlaubt. Jugendliche sind erst ab dem Alter von 14 Jahren voll religionsmündig und können frei entscheiden, ob und zu welchem Glauben sie sich bekennen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass bis dahin die Eltern bestimmen können, nach welchem Bekenntnis sie ihre Kinder erziehen. So können die Erziehungsberechtigten für ihren Nachwuchs entscheiden, ihn taufen zu lassen. Erst ab einem Alter von zehn Jahren soll der Willen des Kindes dabei ansatzweise eine Rolle spielen, so sieht es das Gesetz vor. Lange hatte die möglichst frühe Taufe immerhin eine mehr oder weniger gute Begründung: Falls das Kind stirbt – und das war durch die hohe Kindersterblichkeit nicht unwahrscheinlich – sollte der Aufnahme in den Himmel wenigstens nichts im Wege stehen. Heute gibt die geringe Zahl in Deutschland das nicht mehr als Legitimation her.

Aus getauften Kindern werden mit der Zeit jugendliche Kirchenmitglieder und später Erwachsene. Einige davon lassen sich konfirmieren oder begehen die Kommunion, ersteres mit rund 13, letzteres ab etwa acht Jahren. Manche finden ein Zuhause in ihrer Religion, bringen sich in der Gemeinde ein und praktizieren ihren Glauben in ihrem Alltag – zu Letzteren gehört etwa jedes fünfte christliche Kirchenmitglied. Andere gehen zwar nicht regelmäßig in die Kirche oder beten zu ihrem Gott, fühlen sich aber als Teil der christlichen Kirchen weitestgehend wohl und möchten dies bleiben.

Bei einigen wandelt sich die Einstellung zum Glauben oder zur Institution Kirche mit dem Erwachsenwerden, oder der Glaube war nie wirklich da. Manche dieser Kirchenmitglieder entscheiden sich zum Kirchenaustritt, häufig im jungen Erwachsenenalter. So machen sie die Taufe, der sie nie zugestimmt haben, zumindest rechtlich rückgängig.

Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken zu, besonders häufig sind es junge Erwachsene. 2014 verabschiedeten sich 1,2 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder – ein Rekordanteil. Mit der Volljährigkeit steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Austritt stark an. Am höchsten ist sie unter den 25- bis 29-Jährigen. Die wenigen Kircheneintritte von Erwachsenen können diese Entwicklung längst nicht ausgleichen: Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt.

Den christlichen Kirchen ist das Problem bekannt. Deshalb haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche Deutschland 2017 in einer Studie Prognosen für ihre Mitgliederzahlen und das damit unmittelbar zusammenhängende Kirchensteueraufkommen bis zum Jahr 206036berechnen lassen. Die Zahlen sehen düster aus: In 40 Jahren wird sich die Zahl der evangelischen und katholischen Christ*innen hierzulande etwa halbiert haben. Schon Jahre vorher werden sie nicht mehr die Mehrheit der Deutschen Bevölkerung ausmachen – noch liegen sie knapp darüber. Auf demografische Faktoren, also zu wenige junge Menschen und das Versterben älterer Mitglieder, können die Kirchen den Mitgliederschwund nur zum Teil schieben. Laut der Studie haben Austritte und fehlende neue Gläubige den größeren Einfluss.

Kleinkindtaufen verschaffen den Kirchen mit Abstand die meisten Neumitglieder, jedoch lassen zunehmend weniger Eltern ihren Nachwuchs taufen. Das überrascht wenig, denn die immer mehr werdenden nicht religiösen Eltern entscheiden sich selten dafür. Auch deswegen sind Christ*innen in Deutschland im Schnitt älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Etwa jedes sechste Kirchenmitglied ist jünger als 20 – immerhin 7,2 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die zumeist nicht zu ihrer Ta-fe zugestimmt haben.

Erst ab 14 dürfen Jugendliche aus dem eigenem Willen heraus aus der Religionsgemeinschaft austreten. Danach gibt es weitere Hürden: Die 25 Euro Gebühr der Standesämter mögen viele noch in Kauf nehmen, sozialer Druck vom Umfeld kann die Entscheidung jedoch schnell zum Wackeln bringen – die religiöse Oma will man eher nicht enttäuschen. Wer einen sozialen Beruf anstrebt, überlegt sich den Austritt ebenfalls zwei-mal, weil die entsprechende Kirchenzugehörigkeit für viele Stellen unter kirchlicher Trägerschaft Voraussetzung ist. Zuletzt erfordert der Kirchenaustritt eine aktive Handlung, die Austrittswillige immer wieder vor sich herschieben und so aus Bequemlichkeit beim Status Quo verbleiben. Wer erst einmal drin ist, kennt es nicht anders und zieht nicht so einfach die Reißleine. Dies ist ein wichtiger Grund für die Kirchen, ihre Mitglieder so jung wie möglich an sich zu binden.

Die Einnahmen durch die Kirchensteuer von möglichst vielen Mitgliedern sind nur ein Faktor, denn zum Zeitpunkt des ersten steuerpflichtigen Einkommens könnten sie rechtlich bereits selbst austreten – wobei das aus den oben genannten Gründen häufig nicht passiert.

Die frühen Taufen haben einen weiteren, entscheidenden Vorteil: Einfluss. Die beiden großen Religionsgemeinschaften wirken an der Gesetzgebung mit, unter anderem im Arbeits- und Abtreibungsrecht. Vertreter*innen sitzen in Gremien und Räten wie dem Rundfunkrat. Die Kirchen gehören zu den größten Lobbyorganisationen in Deutschland, deren Einfluss durch das fehlende Lobbyregister intransparent ist. Die Kirchen selbst legitimieren diesen Einfluss, der mit keiner anderen Bevölkerungsgruppe vergleichbar ist, gerne mit ihren Mitgliederzahlen, in die auch Minderjährige einfließen.

Würde man die nicht voll religionsmündigen Christ*innen herausrechnen, würden Protestant*innen und Katholik*innen nicht mehr aktuell 52 Prozent, sondern – als zwar noch größte Glaubensgemeinschaft – trotzdem eine Minderheit der Gesamtgesellschaft in Deutschland ausmachen. Es ist nicht davon auszugehen, dass spätere Eintritte aus eigener Motivation heraus diese Entwicklung aufhalten könnten. Die christlichen Kirchen hätten angesichts dieser gesellschaftlichen Irrelevanz massive Probleme, ihren Einfluss auf sämtliche Bereiche des Lebens zu rechtfertigen – an-gefangen bei religiösen Feiertagen bis hin zur Erlaubnis, im Arbeitsrecht Konfessionslose zu benachteiligen. Auch der Sonderstatus gegenüber anderen Glaubensrichtungen ließe sich nicht mehr so leicht wegdiskutieren. Obwohl sich andere Religionen einen möglichst jungen Eintritt von Mitgliedern ebenso zu Nutze machen, reicht deren Einfluss in Deutschland nicht annähernd an den des Christentums heran. So erfüllt die Taufe von Babys und Kindern für die christliche Kirche die Funktion lebensverlängernder Maßnahmen, die ihren wahren Zustand verschleiern.

Zu groß ist der Einfluss, den die beiden Kirchen in sämtlichen Bereichen des Lebens – und zwar sowohl dem von Gläubigen als auch Nicht- oder Andersgläubigen – haben, um nicht die Bedingungen dafür zu beleuchten, wie dieser genau zustande kommt. Wenn eine Institution sich und ihren Machtanspruch nur dadurch erhalten und reproduzieren kann, dass der großer Anteil der Mitglieder sich nicht selbst für die Zugehörigkeit entscheidet und ein späterer Austritt erschwert ist, muss das hinterfragt werden. Denn würden sich Menschen nur noch aus freiem Willen und ohne sozialen Druck zum christlichen Glauben bekennen in einem Alter, in dem sie die Tragweite dieser Entscheidung überblicken können, würde sich auch in Zahlen schwarz auf weiß niederschlagen, was Umfragen längst bestätigen: Der christliche Glaube ist in Deutschland für die überwältigende Mehrheit mittlerweile irrelevant

Elena Everding

ist Vorstandsmitglied der Jungen Presse Niedersachsen, studiert in Hannover Politikwissenschaft im Master und arbeitet als Freie Journalistin. Das JPN-Journal und der dazugehörige Blog ist ihr Herzensprojekt - ab und zu schreibt sie hier auch selbst.

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