blog.jungepresse.de

Gedemütigt, unterdrückt, gequält: Hörspiel verarbeit Schicksal der Verschickungskinder

Gastbeitrag aus der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung

Zwei Straßenecken wohne ich von der Stelle entfernt, wo sich einst das Waldhaus mit Blick über Bad Salzdetfurth erhob. Seit seinem Abriss in den 1970er Jahren liegt dort ein Fußballplatz. Früher kickte ich nichtsahnend einen Ball ins Tor, heute sitze ich auf den verbliebenen moosbewachsenen Grundmauern und schreibe das Textbuch für Der Plumpsack geht um. Ein scheinbar unschuldiges Kinderspiel, das mit guter Miene die Unterdrückung der Schwächsten besingt. Sinnbild für die Verschickung.

Wie schon das unter meiner Regie entstandene Tonkuhle-Hörspiel Die Schlangenbande über eine angebliche Widerstandsgruppe in der NS-Zeit, erzählt die Audioproduktion von unterdrückten Kindern und Jugendlichen. Womöglich spielen meine eigenen Erfahrungen mit Schikanierung und Gewalt während der Schulzeit eine Rolle, dass ich mich heute für Unrecht an Kindern laut machen möchte. So war mein Interesse geweckt, als im Herbst vergangenen Jahres erstmals der SWR über die bestürzenden Missständen in Verschickungsheimen berichtete: Drangsalierung, Essenszwang, Prügel. Von den hunderten Kurheimen zwischen Nordsee und Schwarzwald erreichte das Waldhaus eine traurige Bekanntheit, da hier 1969 drei Kinder zu Tode kamen.

Wo früher das Waldhaus stand, liegt heute ein Fußballplatz | Foto: Línus Rath

Unter den 1.900 von der Initiative Verschickungskindern gesammelten Berichten ist auch die Niederschrift von Sabine Schwemm aus Hannover. Seit unserem ersten Cafébesuch hat sich viel gewandelt: Vor einem Dreivierteljahr tat sie sich noch schwer, über die „schlimmsten Wochen ihres Lebens“ zu erzählen, heute engagiert sich Schwemm als Landeskoordinatorin für die Initiative Verschickungskinder und spricht offen in zahlreichen Medien über ihre traumatischen Erlebnisse. Schwemm möchte mit ihrem Gesicht für die Aufklärung stehen und so trägt auch die Protagonistin meines Hörspieles Der Plumpsack geht um ihren Vornamen. In dieser Figur sind allerdings die Erlebnisse mehrerer Zeitzeug*innen zusammengeflossen, um das Hörspiel vor dem Vorwurf zu wahren, ein Einzelschicksal zu reproduzieren. Unter ihnen ist auch der Berliner Hörspielsprecher Werner Wilkening. Erst bei den Aufnahmen im Tonstudio erzählt er mir, dass auch seine Eltern ihn in Kindertagen gleich mehrmals verschickten – ins Waldhaus nach Bad Salzdetfurth. Natürlich ein ungeheurer Zufall, der aber deutlich macht, dass die anhand der Bettenbelegung hochgerechneten 8-12 Millionen Kinderkuraufenthalte keinerlei Überspielung darstellen. Die damaligen Kinder weilen mitten unter uns, die meisten aber schweigen bis heute. Auch Schauspieler Wilkening hat seine traumatischen Erlebnisse über Jahrzehnte weggeschlossen, erst beim Lesen des Hörspielskriptes werden die Bilder aus dem Waldhaus wieder wach.

Eckart Dux ist bekannt als Stimme von Gandalf und Norman Bates in „Psycho“, in „Der Plumpsack geht um“ spricht er den Kinderarzt | Foto: Silas Degen

„Was stellt ihr euch so an wegen der sechs Wochen? Andere mussten in Erziehungsheimen über Jahre hinweg Gewalt erfahren“, ist ein Satz, den Verschickungskinder immer wieder hören müssen. „Aber sechs Wochen können eine lange Zeit sein“, entgegnet ihnen Bundeskoordinatorin Anja Röhl.

„Wenn ein Mensch irgendwo anders misshandelt wird, beschwert sich auch niemand, dass das ja vielleicht nur 30 Minuten waren.“

Anja Röhl, Bundeskoordinatorin AEKV

30 Minuten lang ist auch mein Hörspiel. Ein Zeitfenster, in dem ich keine Erklärung oder gar Täter der damaligen Zeit suche. Dafür fehlt mir die Expertise eines Historikers. Der SWR zeigte im Sommer die Gesichter dreier NS-Verbrecher, die nach dem Krieg als Heimleiter arbeiteten. Ein gefährlicher Zug, durch den das Thema gerade durch die Wortverwandtschaft mit der Kinderlandverschickung in ein falsches Kapitel deutscher Geschichte abzurutschen droht. Damit wird die institutionelle Verantwortung auf drei NS-Gesichter abgeschoben. Die Verschickungsheime aber sind ein Phänomen der Bundesrepublik und müssen als solche aufgeklärt werden.

Am Samstag (29. Mai 2021) um 17 Uhr erfolgte die Radiopremiere von „Der Plumpsack geht um“ auf Radio Okerwelle 104,6. Im Sommer wurde das Hörspiel auf mehreren Festivals aufgeführt, wo es unter anderem für den Internationalen Hörspielpreis und den Niedersächsischen Medienpreis nominiert war.

Journal Redaktion

Kommentar schreiben

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Your Header Sidebar area is currently empty. Hurry up and add some widgets.