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Selbstvertrauen als Mittel gegen Druck

Allein in Deutschland: 21.701 Studiengänge. Über 450 Ausbildungsberufe. Studium, Freiwilligendienst, Praktikum, Work & Travel, Ausbildung, duales Studium, einfach nur entspannen – es gibt unfassbar viele Möglichkeiten, nach der Schule beruflich weiterzumachen.

Ich mache gerade Abitur. Im Gegensatz zu vielen habe ich schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was ich in meinem Leben beruflich machen möchte. Und trotzdem hat es mich doch sehr verunsichert, dass einige in meinem Jahrgang schon vor einem Jahr Bewerbungsgespräche geführt und Zusagen für duale Studiengänge bekommen haben.

An vielen Schulen wird schon eine individuelle Berufsberatung angeboten. Hier können sich die Schüler*innen in einem persönlichen Gespräch über verschiedene Wege und Möglichkeiten informieren und beraten lassen. Sabine Lucht ist Berufsberaterin bei der Agentur für Arbeit und die aktuelle Berufsberaterin an meiner Schule, dem Hannah-Arendt-Gymnasium in Barsinghausen. 

Frau Lucht, was raten Sie jungen Menschen, um sich beruflich zu orientieren?

Sabine Lucht: Ich finde es zunächst gut, über die Wege nachzudenken. Brauche ich eine Vergütung, kann ich mich selbstständig organisieren, bin ich eher ein praktischer Typ? Was ich auch wichtig finde, ist einfach anzufangen. Wenn ich versuche, alles kennenzulernen, dann bewege ich mich auf der Stelle, weil es so viele Möglichkeiten gibt. Sucht keinen Beruf, der euch zu 100 Prozent gefällt. Auch wenn man später in die Arbeitswelt schaut, wird man herausfinden, dass man das nicht finden wird – sucht lieber eine Stelle, bei der euch der Großteil zusagt.

Auf welchem Stand die Schüler*innen, wenn sie zu Ihnen kommen? 

Ich erlebe alles, das ist ganz gemischt. Von „Ich habe noch keinen Plan“ über „Ich möchte noch keinen Plan haben, weil ich der Schulzeit noch nachtrauere“ zu „Ich bin sehr gut informiert und möchte nur noch ein paar Details wissen“. Ich bin immer wieder überrascht, wie unterschiedlich das Wissen selbst innerhalb eines Jahrgangs ist.

Wovon ist der Stand der Schüler*innen denn abhängig?

Er hängt sehr von Schule ab und davon, ob das Thema im Unterricht behandelt wird, aber auch von den Lehrkräften. Wenn die Berufsorientierung zum Beispiel schon in Jahrgang 9 sehr stark thematisiert wird, setzen sich manche Schülerinnen und Schüler schon in diesem Alter zu sehr unter Druck. Das ist natürlich sehr schade, weil es eigentlich ein spielerisches Herangehen dabei geben sollte, die Berufe zu entdecken.

Die Beratungslehrerin der Schule, Astrid Stalmann, beschäftigt sich in ihrer Arbeit viel mit Selbstvertrauen. So wird an der Schule nun schon der zweite Workshop „Schluss mit schüchtern“ angeboten, der zu genau diesem Selbstvertrauen verhelfen soll.

Frau Stalmann, was ist denn so wichtig an gutem Selbstvertrauen?

In der Schule ist der Anreiz oft die mündliche Note. Aber natürlich ist Selbstvertrauen für die eigene Persönlichkeit das entscheidende. Nur wenn man dieses Selbstvertrauen hat, ist man sich seiner eigenen Stärken bewusst und kann seine Begabungen schätzen lernen und entfalten. Was möchte ich in meinem Leben machen und wer möchte ich sein? Und natürlich bewirkt ein gutes Selbstvertrauen auch, dass man sich nichts von außen aufdrücken lässt. In der Berufsorientierung geht es schließlich häufig sehr früh damit los, dass die Eltern fragen: „Was willst du denn machen? Willst du nicht …? Das kannst du doch so gut. Aber damit verdient man doch nichts. Wenn du das studierst, fährst du später Taxi.“ All diese Sprüche beeinflussen weniger, wenn ich ein gesundes Selbstvertrauen habe und weiß, was für mich gut ist. Dazu gehört, dass ich mich selbst kenne, dass ich weiß, was ich kann, was ich will und was mir Spaß macht. 

Frau Lucht, wie hat sich die Berufsorientierung denn weiterentwickelt?

An den Gymnasien hat sich die Berufsorientierung sehr gewandelt. Früher gab es nur Studienorientierung, mittlerweile gibt es die zusätzliche Berufsorientierungsstunde wöchentlich in Jahrgang 11. Dadurch hat sich das Thema geweitet und mehr Raum bekommen, das halte ich für sehr wichtig. Es geht auch nicht mehr nur darum, mit den Praktika einen Einblick in die Arbeitswelt zu bekommen, sondern auch schon Bereiche zu erproben, die für eine Person infrage kommen können.

Wie läuft denn eine Berufsberatung überhaupt ab?

Ich finde es wichtig, dass man zunächst einen transparenten Überblick darüber bekommt, welche Möglichkeiten man hat. Was bedeutet ein Vollstudium an einer Universität, was bedeutet eine betriebliche Ausbildung oder ein duales Studium? Wenn man diese Punkte wie Eigenfinanzierung, viel Selbstorganisation und so weiter abfragt, kommt man relativ schnell darauf, welcher Weg am besten passen wird.

Beim Finden dieses Weges kann jedoch viel im Weg stehen. Frau Lucht, wie und bei wem erleben sie den Druck bei den Schüler*innen?

Gerade sehr viele junge Frauen haben sehr viel Ehrgeiz und setzen sich sehr unter Druck. Ich finde es immer sehr schade, wenn man in der Schule drei Jahre auf seine Traumnote hinarbeitet, um dann Medizin zu studieren, und gar nicht mehr lebt. Diesen Druck versuche ich bei der Beratung zu nehmen. Der innerliche Druck ist häufig da, natürlich kommen da manchmal auch äußere Faktoren hinzu. Solche Faktoren können zum Beispiel sein, dass in einer Familie alle studiert haben und dann der Druck da ist, auch zu studieren. Natürlich geht das auch andersherum: Ich selbst komme aus einer sogenannten Arbeiterfamilie – den Begriff finde ich persönlich eher unschön – und wollte meiner Familie nicht nur zeigen, dass ich Abitur mache, sondern auch, dass ich dann sogar „etwas mit meinem Abitur mache“. Eigentlich ist das immer schade, wenn man in dieser Hinsicht nicht aus eigenem Antrieb handelt. Am häufigsten erlebe ich aber den eigenen innerlichen Druck.

Das Gefühl, mit der Berufswahl eine Wahl fürs Leben zu treffen, erhöht den Druck natürlich noch. Gerade im persönlichen Umfeld werden Studienabbruch oder berufliche Neuorientierung häufig tabuisiert. 

Das kann sich natürlich auch ändern. Ich kann nach meinem Abitur eine Ausbildung machen und danach trotzdem studieren. Ich finde an unserem System besonders gut, dass es so offen ist. Viele junge Menschen machen sich den Druck, nach der Schule eine Entscheidung für ihr ganzes Leben zu treffen. Es gibt einen Trendforscher, der herausgefunden hat, dass in eurer Generation im ganzen Leben letztendlich fünf Berufe ausgeübt werden. Wir haben den Trend zum lebenslangen Lernen und das sind Trends wie Digitalisierung, Industrie 4.0, auf die wir eingehen müssen. Dieses Bewusstsein nimmt dann natürlich auch einen Teil des Drucks.

Letztendlich kommt es bei der Berufsorientierung darauf an, das Richtige für sich selbst zu tun. Im Nachhinein fühlt sich die Situation jedenfalls sehr viel entspannter an. Wir alle sollten ein bisschen mehr Vertrauen in uns selbst haben – schließlich ist es allein unsere Entscheidung. Frau Stalmann hat mir gesagt: „Wenn man Vertrauen hat, dann braucht man Traute – es braucht Mut zu vertrauen.“ Ich glaube, dass sich dieser Mut bei mir erst mit der Zeit herausgebildet hat und dass ich mir tatsächlich sehr viel Druck gemacht habe. Denn als ich jetzt meiner Mama gesagt habe, dass mich der wirklich detaillierte Plan meiner Mitschüler*innen doch sehr verunsichert, hat sie mir gesagt: „Wenn ihr alle schon wissen würdet, was ihr später machen wollt, wäre das doch langweilig.“

Rieke Duhm

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