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Tempelhof: Drachen über den Flugbahnen

Bunte Bänder fliegen durch die Luft. Ein kleines Regenbogendreieck vor dem strahlend blauen Himmel. Ein Junge, etwa drei Jahre alt, hält mit beiden Händen einen blauen Plastikgriff. Der Wind ist stark. Der Junge geht tief in die Hocke, springt dann wieder auf und rennt weit, um seinen kleinen Drachen in der Luft zu bewegen. Ein Fußball fliegt knapp an ihm vorbei. Stimmengewirr in vielen verschiedenen Sprachen, ein Geruch aus Parfum und Sonnencreme und vor allem: Menschen.

Mehr als 100.000 hat es heute hierhergetrieben, auf das Tempelhofer Feld mitten in Berlin. Alte Landebahnen sind mit bunter Straßenkreide bemalt. Und davor tausende Drachen. Kleine, große, dreieckig, bunt, bedruckt oder einfarbig. Paw Petrol, Eulen, Adler, Bienen, Einhörner und ganz viele Regenbogen. Die meisten Riesendrachenfestivals finden in Deutschland an der Nord- und Ostsee statt – und dieses mitten in Berlin vor der Kulisse des alten Flughafengebäudes.

Foto: Rieke Duhm
Foto: Rieke Duhm

Von der Nordsee kommt auch Jürgen van Almelo. Während andere Drachen-Teams aus der Ukraine oder sogar Thailand kommen, erzählt die dicke, rote Schrift auf seinem T-Shirt seinen Ursprung. „Nordhorn Kite Team“. Die Arme sind in die Hüften gestemmt, seine blauen Augen blitzen und der kleine, graue Kinnbart wackelt beim Grinsen. „Heute ist‘s perfekt!“

Mit perfekt meint Jürgen das Wetter. Den ganzen Tag ist es für Berlin windig, etwa Windstärke drei. Ideal sind Stärke drei bis vier, das sind zwischen 12 und 28 km/h. Nur jetzt ist es etwa eine halbe Stunde windstill. „Aber wir kriegen alles hin!“  Zum Beweis dreht er sich um und ruft seinem Kollegen Tobi etwas zu. „Mach mal ‚nen 360er.“ 15 Meter entfernt nimmt Tobi die Herausforderung an und lenkt seinen kleinen Drachen einmal im Kreis. Tobi kann auch gegen den Wind lenken.

Die kleinen Lenkdrachen, die viele Familien hier dabeihaben, sind nicht das Highlight des Festivals. Es sind die Großdrachen, die in einem abgetrennten Bereich in den Himmel aufsteigen. Aliens, Fische, Frösche, ein Astronaut, ein Schwein, sogar eine Rakete und ein Radlader.

Der Wind bläst die dünnen Stoffe auf und lässt die Figuren bauchig und lebendig werden. Langsam bewegen sich die Drachen am Himmel auf und ab und wirken dadurch schwer und träge. Erst beim Näherkommen wird klar, welche Dimensionen diese Riesendrachen wirklich haben.

Foto: Rieke Duhm

Auf der Wiese darunter sieht es aus, als lägen Zelte auf dem Boden, zehn, manchmal 20 Meter lang. Die Menschen, die zwischen den Stoffen herumlaufen, sehen dagegen wie Figuren in einem Miniaturland aus. Aus der Ferne waren die Drachen kleine Punkte am Himmel, hier sind es riesige Wesen aus einer anderen Welt. Doch diese Welt ist nicht etwa eine Fabrik. Es ist die Selbstproduktion.

Wie macht man so ein Riesendrachen selbst? Die Antwort sind Kuscheltiere. Wenn Jürgen eine Figur bauen möchte, kauft er sich zwei gleiche Kuscheltiere. Eines schneidet er auseinander und bügelt die einzelnen Teile. Aufgeklebt auf Millimeterpapier kann er dann die Maße und Form ausrechnen. Das andere lässt er heile, er braucht es als Modell.

Angefangen hat Jürgens Geschichte vor 43 Jahren. Da hat er mit seiner Frau am Strand in Cuxhaven einen Spaziergang gemacht und genau so einen kleinen Jungen mit seinem Lenkdrachen gesehen, wie sie hier auf den Wiesen zahlreich herumlaufen. Danach ging es mit seinem ersten Riesendrachen los: die schwarze Zeichentrickente Daffy Duck. Sein großer Stolz ist der 18 Meter lange Kater Sylvester aus der Comicreihe der Looney Tunes. An dem hat er drei Monate lang im Keller gebastelt. Jeden Abend nach seiner Arbeit als Bundesbeamter beim Zoll. Mittlerweile ist Jürgen 67 Jahre alt und seit zwei Jahren pensioniert.

Diese Arbeit muss nicht unbezahlt bleiben. In Frankreich haben ihm ein Interessent aus Saudi-Arabien  16.000 Dollar für seinen Sylvester angeboten. Verkauft hat er ihn nicht. Denn dann hätte er den Drachen für sich selbst wieder nachbauen müssen und er wäre kein Unikat mehr gewesen.

Foto: Rieke Duhm

Die Profidrachenbauer sind eine eigene Bubble. Manchmal erschreckt sich Jürgen, wenn er auf seine 1295 Facebookfreund*innen aus der ganzen Welt schaut. Auch hier auf dem Tempelhof kennt man sich. Er wird immer wieder beim Erzählen unterbrochen. Ein anderer Kollege kommt von hinten und schaut ihm neugierig über die Schulter, seine Bierdose schwappt fast gefährlich über. „Ich muss ja aufpassen, dass er keinen Blödsinn redet!“ Es ist eine kleine Bubble an vielen Orten. Die ganze Welt hat Jürgen schon bereist. Seit Januar war er schon in Indien, Italien, Frankreich, den Niederlanden… 17 bis 18 Events in diesem Jahr.

Sein liebstes Drachenfest ist aber in Upleward, Ostfriesland. Denn das veranstaltet er selbst. 15 andere Menschen mit seinen Drachen darf er da einladen. „Bei dem Gedanken bekomme ich Gänsehaut!“, ruft er stolz und zeigt zum Beweis seinen Arm und tatsächlich: Die kleinen blonden Härchen auf der sonnengebräunten Haut haben sich gerade aufgestellt. Dieses Hobby geht durch den ganzen Körper. „Das ist das Virus, das lässt einen nicht mehr los“, sagt Jürgen grinsend.

Mittlerweile wird es langsam Abend, die Sonne scheint weniger und die Kinderaugen werden schwerer. Nachdem Jürgen alle Drachen in seinen Zelttaschen verstaut hat, gibt es für ihn ein perfektes Ende nach einem langen Festivaltag: „Duschen, Bierchen trinken und Schluss.“

Rieke Duhm

Rieke ist seit 3 Jahren im Vorstand der Jungen Presse Niedersachsen. Hier vermischt sie ihre Leidenschaft aus Politik und Journalismus. Nach ihrem FSJ beginnt sie nun ihr Studium in Politikwissenschaften

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