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Lisanne und Angelina kreiden einen Catcall an.

Die Macht der Kreide

Sie braucht nur etwas Kreide und den Glauben daran, durch Aktivismus etwas verändern zu können. Schon seit über einem Jahr geht Lisanne Richter täglich Catcalls ankreiden – also Fälle von verbaler Belästigung im öffentlichen Raum. An den Orten, an denen sie passiert sind.

Die Aktivistinnen

„‚Ey lass uns einen Dreier haben.‘ Zwei Minuten später hatte ich eine Hand im Schritt“. Mit bunter Kreide schreibt Lisanne Richter die Sätze auf den Platz am Steintor. Derweil fällt Nieselregen vom grau-blauen Himmel, der die knalligen Kreidefarben etwas weniger knallig erscheinen lässt. Eigentlich braucht ihre Botschaft kaum farbliche Untermalung. Mit „#stopptBelästigung“ und „@catcallsofHannover“ beendet Lisanne den kurzen Text.

„Ey lass uns einen Dreier haben“ / Foto: Lima Fritsche

„Ich hatte Bedenken, ob man bei dem Regen überhaupt ankreiden kann“, sagt die 23 Jahre alte Lehramtsstudentin. Sie hat aber einen Baum gefunden, unter dem es einigermaßen trocken ist. „Glück gehabt.“ Lisanne dreht sich zu Angelina um: „Gut, dass du mitgekommen bist.“ Die 18-Jährige ist heute mit dabei, was Lisanne, die gleich zur Arbeit muss, sehr gut passt. Die beiden mussten den Text doppelt schreiben. Zu zweit geht das schneller. Lisanne macht noch ein Bild mit ihrem Handy, für den Instagram-Account der Gruppe. Das Ganze dauert gerade mal eine Viertelstunde. Lisanne ist geübt, sie hat „Catcalls of Hannover“ schon im Juni 2019 gegründet. Mittlerweile sind acht junge Frauen im Team.

Jeden Tag gehen sie ankreiden und posten es auf Instagram. Sie möchten, dass möglichst viele Leute mitbekommen, was täglich passiert und sonst unbemerkt bliebe. Die Betroffenen von Catcalling sollen eine Stimme bekommen.

Die Betroffenen

Catcalls sind unerwünschte Äußerungen, die Menschen im öffentlichen Raum von Fremden hinterhergerufen bekommen. Sie sind eine Form der verbalen Belästigung, unter der überwiegend weiblich gelesene Menschen leiden und die fast ausschließlich von Männern ausgeht. Laut einer Studie der Foundation for European Progressive Studies waren über zwei Drittel der befragten Frauen aus Deutschland schon mindestens ein Mal in ihrem Leben von Catcalling betroffen. Das zeigen auch die zahlreichen Anfragen, die „Catcalls of Hannover“ von Hannoveraner*innen auf Instagram zugeschickt bekommt: „Die Erfahrung, die wir heute angekreidet haben, ist Mitte Juli passiert“, sagt Lisanne. Mittlerweile ist Ende Oktober. Die Aktivistinnen kreiden täglich einen Catcall an. Sie bekommen aber so viele Fälle zugeschickt, dass sie mit dem Ankreiden kaum noch hinterherkommen.

„Ich dachte nicht, dass wir mal so bekannt werden würden“, erinnert Lisanne sich. Sie hat beschlossen, „Catcalls of Hannover“ zu gründen, nachdem sie selbst „mal wieder“ von einer Gruppe Männer gecatcalled worden war. Es habe sie enorm gestört, wie alltäglich diese Art der Belästigung ist. Sie folgte zu dem Zeitpunkt schon einer Weile der Instagram-Seite von „Catcalls of New York City“ und hatte dann die Idee, ein hannoveraner Pendant zu starten. Heute wundert sie sich manchmal über sich selbst: „Normalerweise bin ich nicht die Art Person, die sich bei so etwas in die erste Reihe stellt. Aber ich hatte damals einfach genug.“ Also kaufte sie ihren ersten Eimer Kreide und legte los.

Lisanne Richter hat „Catcalls of Hannover“ gegründet. / Foto: Lima Fritsche

Die Reaktionen

An diesem regnerischen Tag ist der Platz am Steintor verhältnismäßig leer. Einige Leute kommen aber vorbei, bleiben stehen und schauen, was Lisanne und Angelina aufschreiben. Die einen stimmen zu, andere runzeln die Stirn oder schütteln den Kopf. Lisanne erklärt, dass das nicht ungewöhnlich sei. Die Mehrheit der Leute bekunde Unterstützung für ihr Vorhaben. Besonders im Kopf blieben ihr aber die Situationen, in denen die Feministinnen Hass erfahren haben. Das sei schon auf der Straße passiert, aber vor allem online. Lisanne erzählt von Hass-Kommentaren auf Instagram: „Wir bekommen zu hören, dass die Betroffenen sich nicht so anstellen sollen.“ Das komme vor allem vor, wenn in dem angekreideten Catcall keine Schimpfwörter enthalten sind. Lisanne sagt: „Da ist für uns eine Grenze überschritten, denn hinter jedem Post steckt jemand, der das auch liest und vielleicht noch mit der Situation zu kämpfen hat.“

Die Macht der Kreide / Foto: Lima Fritsche

Genau ihnen soll das Ankreiden nämlich helfen: den Betroffenen. Deshalb kreidet „Catcalls of Hannover“ immer dort an, wo der Catcall passiert ist. Der Ort soll symbolisch für den Menschen zurückerobert werden. Lisanne ist es wichtig, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Das gesellschaftliche Problem müsse viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. „Es wäre super, wenn Catcalling überhaupt nicht mehr passieren würde, aber das ist wohl unrealistisch“, sagt Lisanne. „Es wäre schonmal was, wenn es nicht mehr normalisiert werden würde“. Außerdem wünscht sie sich, dass Catcalling in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden kann. Das ist noch nicht der Fall, weil die verbale Belästigung nicht als sexualisierte Gewalt angesehen wird. Lisanne findet das falsch. Catcalling greife in das Leben der Betroffenen ein. Sie erzählt: „Viele schreiben uns, dass sie sich noch lange daran erinnern und Angst haben. Sie tragen bestimmte Klamotten nicht mehr oder färben ihre Haare nicht mehr so auffällig“. Die Betroffenen suchen das Problem bei sich selbst. Eine Petition, die von Lisannes Gruppe unterstützt wird, soll Catcalling bundesweit strafbar machen.

Lisanne findet trotzdem, dass „Catcalls of Hannover“ bereits stolz auf sich sein kann. „Die Leute reden jetzt über uns“, sagt sie. Das sei der Anfang der Veränderung. Sie packt ihre Kreide ein – zumindest bis zum nächsten Tag.

Lima Fritsche

Lima Fritsche ist 17 Jahre alt, frisch gebackene Abiturientin und die aktuelle FSJlerin der Jungen Presse Niedersachsen.

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