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Kirche im Licht der Nacht

Der Glaube und meine Depression. Flucht oder Zuflucht?

Depressionen. Und der Glaube ans Christentum. Kann ich Gott die Schuld an meiner Erkrankung geben? Oder kann der Glaube an ihn mir helfen? Wie schaffe ich es, biblische Texte und eine moderne Sicht unter einen Hut zu bekommen? Diese Fragen hat sich die Protestantin Lavinia Müller gestellt.

Eine schwere Entscheidung, ein Verlust, Einsam- oder Dankbarkeit: die Meisten von uns wenden sich an eine höhere Macht. Lediglich 16 Prozent aller Menschen auf unserem Planeten haben keinen Bezug zu einem Glauben. Dieses Ergebnis ist aus einer, im Jahre 2010 zusammengetragenen Erhebung des amerikanischen PEW-Instituts hervorgegangen. Demnach sind 8 von 10 Menschen weltweit gläubig. In meinem Fall ist es Jesus Christus, der Sohn Gottes, Erlöser, Alpha und Omega. Für Gläubige besteht die Möglichkeit, ihr geistiges Gepäck in andere Hände zu übergeben und Zuflucht unter schützen-den Armen suchen, wenn ihnen sonst nichts auf Erden den lang ersehnten Frieden schenken kann.

Schuld

Aber wo suche ich Schutz, wenn ich Gott dafür anklage, was in mir geschieht? Und was ist, wenn ich die Schuldige bin? Wenn mein ganzer Schmerz und die Trauer in mir allein auf mich zurückzuführen sind? Und könnte man überhaupt irgendjemanden für eine Erkrankung schuldig machen?

Wenn wir uns erkälten, versuchen wir höchstens herauszufinden, wieso oder wo wir uns angesteckt haben: Habe ich mich womöglich an diesem oder jenen Tag zu dünn angezogen? Solche Fragen schwirren uns durch den Kopf, aber wir machen uns oder jemand anderes nicht schuldig dafür. Natürlich sind eine Erkältung und eine Depression nicht vergleichbar, beides sind aber Erkrankungen und dennoch behandeln die meisten Menschen sie völlig unterschiedlich.Ich frage mich, wieso ich mich gerade in der schwersten Zeit meines Lebens so weit entfernt von Gott und seiner Liebe gefühlt habe und, ob die Depression generell die große Grauzone des christlichen Glaubens ist.

Krank oder verflucht?

Auch wenn Jesus nicht der Herr deines Herzens ist, kennst du vielleicht die Erzählungen von Jesus Christus, dem Heiler. Der, der Blinde sehen und Stumme sprechen lässt. Der, der Dämonen austreibt und todkranke Menschen genesen lässt. Und darum geht es: die Beständigkeit der Worte Gottes, die zumindest ich bis jetzt auf- und angenommen habe ohne sie ernsthaft anzuzweifeln. Gottes Wort ist für die Ewigkeit, jedoch wandelt sich die Welt um uns herum, neue Erkenntnisse werden gewonnen, neue Konzepte von Liebe und Leben – und manchmal stimmt es nicht ganz mit den Aussagen, die man zum Beispiel in der Bibel fin-den kann, überein. Aussage dazu im neuen Testament, aus dem ersten Brief Petrus: „,Aber des HERRN Wort bleibt in Ewigkeit.’ Das ist aber das Wort, welches unter euch verkündigt ist“ (1. Petrus 1, 25) oder „Das Gras ist verdorrt, die Blume ist verwelkt. Aber das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit“ (Jesaja 40, 8). Wie übertrage ich mein Inneres auf die niedergeschriebenen Worte Gottes, wenn das, was sich gerade in meinem Gehirn abspielt, eine „neumodische“ Erscheinung ist? Das dachte ich jedenfalls, dass das, was mit mir passiert, gar nicht so tief in unserer Gesellschaft, und vor allem nicht so weit in der Vergangenheit, verankert ist.

Foto: Lima Fritsche

Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich verzweifelt stundenlang meine Bibel-App durchforstet habe. Würde ich das in mir eine Verstimmung nennen oder ist das alles auf einen Vitamin-D-Mangel zurückzuführen? Ziemlich sicher: nein. Schwirren in mir Dämonen namens Legion und Beelzebub, die mich vor Gottes heilenden Worten fernhalten? Hoffentlich nicht. Bin ich gar nicht eins von Gottes Schäfchen, sondern ein Knecht des Teufels? Vielleicht.

Kann das in mir denn überhaupt so schrecklich sein, wenn Gott es war, der die Saat in meinem Kopf gepflanzt hat? Die Saat, die sich vielleicht in etwas ganz anderes hätte entwickeln sollen, aber stattdessen zu einem dunklen Wald herangewachsen ist, in dem ich mich hoffnungslos verirrt habe?

Depression – was ist das?

Ist denn die Depression überhaupt eine neuartige Krankheit? Nein, die Depression begleitet den Menschen seit Anbeginn der Zeit. Selbst der griechische Philosoph Plato, der von 427 bis 347 vor Christus lebte, hat sich mit der Thematik auseinandergesetzt. Zu seiner Zeit war die Depression als Melancholie geläufig. Zur heutigen Zeit sind die verschiedensten Formen der Depression bekannt und am wichtigsten: Sie wird als Krankheit verstanden und nicht als Charakterschwäche – dies glaubt ein Drittel der Befragten einer 2017 veröffentlichen Online-Studie der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Stiftung Deutsche Bahn.

Genau genommen ist die Depression als psychische Erkrankung zu verstehen – die sich in folgenden Symptomen widerspiegeln kann: Interessenverlust, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Störungen der Konzentration, der Aufmerksamkeit und des Denkvermögens

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit 350 Millionen Menschen von einer Depressionen oder sogenannten affektiven Störungen, bei denen sich die Stimmungslage dauerhaft verändert, betroffen sind.Meist bleibt es jedoch nicht nur bei einer Erkrankung – bei etwa 60 Prozent der Menschen, die einen Suizid begehen, lag laut Odebrecht-Stiftung eine schwere depressive Erkrankung vor. 2018 haben sich in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 9.396 Menschen das Leben genommen. Und mehr als 100.000 haben es versucht.

Depression: Grauzone der Bibel?

Tatsächlich ist das Thema Suizid, in Bezug auf Gottes Wort, kein vertretbarer Ausweg aus dem Leben. Dachte ich jedenfalls. Ich war mein ganzes Leben davon überzeugt, dass ich eine Todsünde begehe, wenn ich mich dazu entscheide, durch meine eigene Hand aus dem Leben zu scheiden. Was ich jahrelang als selbstverständlich angenommen habe, war die Auslegung der römisch-katholischen Kirche in Bezug auf den Suizid. Darunter zählt: Selbsttötung ist eine Todsünde, „Selbstmörder:innen“ wurden nicht kirchlich bestattet, Körper durften nicht in geweihter Erde begraben werden den Predigten zu-folge kamen die Seelen der Verstorbenen nicht in den Himmel.

Jedoch steht nichts davon im Alten oder Neuen Testament – ich schätze, manchmal bleiben Worte an uns haften, die kein Fundament besitzen.

Tatsächlich habe ich in biblischen Texten keinen Fall von ausdrücklich benannter Depression gefunden. Das nächste, was dem kommen würde, sind die „betrübten Herzen“, die sich durch das Preisen des Herrn klären würden.

Vielleicht ist es zu kritisch von mir, zu behaupten, dass schwere Depressionen, suizidales Verhalten und Persönlichkeitsstörungen durch Dank und Lob nicht einfach verschwinden. Laut der Seite von Gläubigen betriebenen Seite Bibleinfo.com sei es möglich, eine Depression so zu überwinden. Dabei sei Meditation eine antidepressive Therapie und die beste Methode, um einem depressiven Tief vorzubeugen – so die Website “der Psychiater”. Und was genau hat Meditation mit dem Gebet zu tun? Tatsächlich kann man die Meditation im religiösen Kontext wiederfinden – im immer wiederholenden Gebet. Beispiel dafür: das im katholischen Glauben verbreitete Rosenkranzgebet.

Foto: Lima Fritsche

Es kommt, wie in fast jeder Lebenssituation, darauf an, was wir mit den Möglichkeiten, die uns zuteil werden, anstellen.

Bei meinen Recherchen habe ich mehrere Schilderungen von Selbsttötungen in der Bibel gefunden. Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei den meisten um einfache Schilderungen, in denen der Suizid kommentarlos hingenommen wird. Eine Ausnahme: Auf Simris Selbsttötung folgte „um der Sünden Jerobeams willen, die er tat und womit er Israel sündigen machte und den HERRN, den Gott Israels, zum Zorn reizte.“ (1. Könige 15, 30).

Trotz Simris Umständen besteht die moralische Verurteilung an seiner Entscheidung. Aufgrund vieler Aussagen der Bibel ist es durchaus denkbar, dass eine Selbsttötung Gottes Willen widerspricht. Wie zum Beispiel: Das Leben ist ein Geschenk Gottes und ich habe kein Recht mich daran zu vergreifen, der Suizid ist nichts anderes als Mord an der eigenen Person und bricht damit das fünfte Gebot Gottes. Laut der römisch-katholischen Kirche. Dabei ist der Suizid einer schwer depressiven Person nicht unbedingt eine freiwillige Entscheidung, da sie sich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet. Und Mordmerkmale erfüllt ein Suizid auch nicht, es ist rechtlich keine Straftat. Seit Februar 2020 gilt das selbstbestimmte Sterben sogar als Menschenrecht.

Wie steht Gott zu mir in der Depression?

Jedoch ist die Aufgabe von Christ:innen, in keinem Fall zu urteilen. Das schließt auch eine Verurteilung gegen die eigene Person selbst ein.

Meine vergangene und depressive Version würde gar nicht nach einer Grauzone in Gottes Wort suchen wollen. Mein eingeschränktes Gedankenfeld würde sich fragen, wieso Gott mich am Leben lässt, ohne mir einen Platz zuzuweisen. Ich würde ständig zu daran denken nutzlos, unerwünscht, ungeliebt zu sein – und wäre demnach nicht bereit, Gottes Anweisungen zu empfangen. Geschweige denn, offen für irgendeine Art von geistiger Besinnung.

Möchte Gott sich nur das Recht einbehalten über meinen Tod zu bestimmen oder möchte er mich wirklich am Leben haben? Wieso rettet er mich nicht vor der Trauer in mir, die mich immer weiter ein-nimmt?

Ich komme an einen Punkt, an dem ich begreife, wie einfach es ist, sich diese und ähnliche Fragen zu stellen. Wie schnell ich genügend „Beweise“ in Gottes niedergeschriebenem Wort finden würde, die mich selbst als Monster oder als Ebenbild des Teufels sehen lassen würden.

Diese Gedanken vergehen, wenn ich versuche, auf die andere Seite der Zeilen zu blicken und merke, wie viel von dem, was ich lese, mich wirklich bestärkt und aufblicken lässt. Ich bin der Meinung, dass Gottes Wort auf unzählige Weisen interpretierbar ist und, dass ich die besagten Zeilen auf meine persönliche Situation beziehen muss, um Gott immer nah zu bleiben.

Erkenntnis

Es ist unglaublich einfach, mich gedanklich in eine Opferposition zu bringen und meine Depression als von Gott geschickte Plage zu betrachten oder als Dämon, der mir ausgetrieben werden muss. Aber dem ist nicht so. Ich konnte den Teil in mir, der mich davon überzeugen wollte, der wahrhaftige Teufel zu sein, erst schrumpfen lassen, indem ich mir mühselig eine Mauer voller positiver und bestärkender Affirmationen aufgebaut habe. Der Großteil dieser kraftvollen Affirmationen ist auf Gottes Wort er-baut und auf meine ganz persönliche Situation angepasst. Dabei ist eine Affirmation nichts anderes als51eine positive Wertung und kann durchaus als Mantra dienen – als Beispiel: ,,Ich liebe und akzeptiere mich, so wie ich bin”. Ich nutze Affirmationen, um leichter durch meinen Alltag zu kommen und in herausfordernden Situationen auf positives Denken zurückgreifen zu können .

Hilfe suchend

Wir leben – zum Glück – nicht einer Zeit, in der Hysterie mit einem Exorzismus, also einer Dämonenaustreibung, behandelt wird und mit dem Tod endet. Sondern in der Zeit der Psychoanalyse und Therapien. Die meisten Menschen verbinden mentale Erkrankungen nicht mehr mit der Besessenheit vom Teufel, dennoch fehlt meines Erachtens die Aufklärung zu so einem relevanten Thema an vielen Stellen unserer Gesellschaft.

Ich habe vor einigen Jahren eine christliche Beratungsstelle aufgesucht. Wieso? Weil ich wirklich dringend die Meinung einer außenstehenden Person benötigt habe. Ich weiß noch, dass die Person, die mir die besagte Beratungsstelle empfohlen hat, dies bewusst auf Grund des christlichen Hintergrundes getan hat. Meine Anfahrt hat sich endlos in die Länge gezogen und das mulmige Gefühl in meinem Magen hat sich immer weiter ausgebreitet.

Aufgrund meiner oberflächlichen Betrachtung der Worte Gottes habe ich geglaubt, ich würde verurteilt werden und mir würde empfohlen werden, mich sozial zu engagieren oder ähnliches. Etwas, das mich nützlich machen würde. Stattdessen hat sich eine unglaublich nette Frau Zeit für mich genommen und jedem Wort, das aus meinem Mund nur so rausgesprudelt kam, aufrichtig zugehört. Als ich mit meinem endlosen Monolog fertig war und wir eine wundervolle Konversation hatten, hat sie mir ans Herz gelegt, eine professionelle Therapie aufzusuchen. Das war’s.

Am Anfang meiner Therapie habe ich Gott noch häufiger dafür angeklagt, wieso mein Gehirn so funktioniert, wie es das eben tut. Und ich glaube auch, dass er es erschaffen hat, aber ich herrsche jetzt darüber. Irgendwann konnte ich loslassen, weil ich verstanden habe, dass Gott mich nicht mit dieser Last namens Depression bestrafen wollte.

Lavinia Müller

Lavinia Müller ist 20 Jahre alt und kommt aus dem schönen Hannover. Neben ihrer Liebe zu guten Büchern und Kaffee verbringt sie die meiste Zeit damit, ihre persönlichen Erfahrungen in Texten wiederzugeben – häufig zum Thema mentale Gesundheit.

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