Zuerst liegt nur ein Stück Stoff auf der Erde, so groß wie der Boden eines Klassenzimmers. Ein Mann nähert sich mit einem Industriegebläse und befüllt langsam den Stoff mit Luft. Ein bunter Fisch steigt auf. Knallrot mit orangenen Dreiecken erhebt sich die Figur in die Lüfte. Kleine weiße Stränge spannen sich und halten den Fisch davon ab, wegzufliegen. Am Zaun stehen sie, die Besucher des Festival der Riesendrachen, und beobachten, wie die Riesendrachen anfangen zu steigen. Ein Fisch, ein Radlader, ein Fossil oder ein Drache, der direkt aus dem Märchenbuch geflogen kommen könnte. Auf den kilometerlangen Landebahnen des Tempelhofer Felds in Berlin tummeln sich die Menschen, der Himmel ist geschmückt mit bunten Drachen jeder Form und Farbe. Die Sonne knallt auf das Feld.
„Heute knacken wir die 100.000“, sagt Jürgen van Almelo aus dem Nordhorn Kite Team und meint damit die Besucher des Festivals. Sein Hobby: Riesendrachen. Fünfeinhalbtausend Quadratmeter Stoff habe er insgesamt schon zu Drachen verarbeitet. Alle selbst genäht und „alles Unikate“, wie er stolz erzählt. Hinter ihm lässt der Wind ein wenig nach und meisten Drachen sinken zu Boden. Van Almelo fährt zurzeit von Drachenfestival zu Drachenfestival. Selbst international lässt er seine Drachen steigen. Sein erstes Festival dieses Jahr war in Indien.
Aber wie kommt er überhaupt zu so einer Leidenschaft? Vor 43 Jahren: Im Urlaub in Cuxhaven. Ein 12 jähriger Junge steht am Strand mit seinem Lenkdrachen. Van Almelo und seine Frau gehen am Strand spazieren und sehen den Jungen, wie er seinen Drachen steigen lässt. Er macht ganze Kunststücke mit ihm und lässt ihn immer wieder Loopings fliegen. Mehrere Stunden schaut das Paar dem Jungen zu. Seitdem sei der „Virus“ auf ihn übergesprungen. Am Ende des zweiwöchigen Urlaubs hatte er fast zehn Drachen gekauft. Es dauert nicht lange bis er sich seinem ersten Team anschließt, den „No Limits“ aus Cuxhaven. Deren Riesendrachen, rund um die Figuren der Sesamstraße, seien bis zu 40 Meter lang. Van Almelo hat inzwischen die Looney Tunes für sich entdeckt, von denen er inzwischen schon acht Drachen hat. Sein längster Drache „Sylvester“ misst ganze 30 Meter.
Zurück in Berlin hat der Wind komplett aufgehört. Viele Familien haben ihre eigenen Drachen mitgebracht. Doch ohne Wind steigen sie nicht auf. Anders die Drachen der Profis. „Windstärke drei und vier sind perfekt, aber wir können alles, von windstill bis Sturm“, sagt Van Almelo. Genau das lässt sich bei einem anderen aus der Riesendrachen-Community beobachten. Ohne Wind fliegt der kleinere Drache und van Almelos Kollege Tobi geht gelassen ein paar Schritte nach hinten. Nur durch diese Bewegung kann der Drache fliegen. „TOBI, MACH MAL NEN 360ER“, brüllt Van Almelo nach hinten. Tobi nickt kurz, geht noch ein paar Schritte zurück. Plötzlich fängt er an zu rennen. Nimmt eine scharfe Kurve. Reißt den Drachen rum. Der Drache fliegt einmal im Kreis, und das sogar, obwohl der Wind wieder leicht eingesetzt hat. Das ist nur möglich, weil ein solcher Drache deutlich weniger wiegt – nur 24 Gramm pro Quadratmeter statt 41 Gramm wie bei normalen Drachen.
Langsam schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Das erste Mal an diesem Tag ein wenig Schatten auf dem Tempelhofer Feld. Das Festival geht zwar noch drei Stunden, aber Van Almelo freut sich schon jetzt auf seinen Feierabend: „Dusche, Bierchen, Schluss.“
Kommentar schreiben