Das kanadische Drama Mommy erschien 2014 und erntete daraufhin zahlreiche Auszeichnungen. Unser Filmrezensent Silas Degen hat ihn vor Kurzem beim Bundeskongress Kommunaler Kinos zum ersten Mal angeschaut und eine ganz persönliche Beziehung dazu entwickelt. Es ist eine einfühlsame Geschichte über den Glauben zwischen einer Mutter und ihrem Sohn mit ADHS, der nicht die Augen vor der Wahrheit zu verschließen versucht.
Als kleiner Junge war ich mit meiner Mutter auf einem Spielplatz. Und als wir auf der Wippe saßen, fragte ich, was passieren müsse, damit sie mich nicht mehr lieben würde. Sie überlegte lange und sagte schließlich: „Wenn du Menschen umbringen willst oder sie wegen ihrer Hautfarbe hasst – dann weiß ich nicht, ob ich dich noch lieben kann.“ Steve Després erfüllt beides. Er spuckte einem schwarzen Taxifahrer auf die Frontscheibe und legte ein Feuer in der Kantine seiner Einrichtung für schwer erziehbare Kinder, wobei ein Junge schwere Verbrennungen erlitt und große Teile seiner Haut transplantiert bekommen musste. Das Heim empfiehlt seiner Mutter Diane, die Elternschaft abzulegen und die Fürsorge um ihren Sohn dem Staat zu überlassen. Seit 2015 gibt es in Kanada das Gesetz S-14, das mittellosen Eltern erlaubt, den Staat als neuen Vormund ihrer Kinder einzusetzen. Zumindest, wenn man dem Film Mommy von Drehbuchautor und Regisseur Xavier Dolan Glauben schenken mag. Ein Gedankenkonstrukt, das an die dunkle Vergangenheit von Adaption in Kanada anschließt. Bis 1970 wurden hier indigene Kinder ihren Familien entrissen und in missionarische Umerziehungsanstalten gesperrt, was mittlerweile als kultureller Völkermord geächtet wird. Aber Mutter Diane hält bedingungslos zu ihrem Steve und nimmt ihn nach seinem Rauswurf aus der Erziehungsanstalt wieder in der eigenen Wohnung auf. Für ihn ein Wiedersehen der Freude, er überschüttet sie mit Liebkosung. Doch wirklich gefehlt hat er in Dianes mühsam aufgebautem Leben nicht. Zwei auseinandergelebte Figuren, aneinandergekettet durch durch die Liebe und das unkonventionelle wie klaustrophobische 1:1-Format.
Hauptdarsteller Antoine Olivier Pilon gelingt das Kunststück, einen Sohn zu verkörpern, den wir im selben Moment lieben und hassen können. Wenn er sich von hinten nähert, die Hände um den Körper seine Mutter legt und ihr in den Ausschnitt fasst, ist da ein hormongesteuertes Monster – aber auch ein verunsicherter Junge, der doch nur Liebe und ein bisschen mehr sucht. Wenn er in blinder Wut seine Mutter an die Wand drückt und die Finger um ihren Hals krallt, treibt mich das Entsetzen so weit, dass ich sein Schnauben im Gesicht zu spüren glaube. Im nächsten Moment liegt er mit eingenässter Hose heulend in der Ecke oder kreiselt sich johlend mit einem Einkaufswagen über einen menschenleeren Parkplatz. Die beiden Gesichter Steves wechseln nicht zwischen den Szenen, sie sind permanent präsent und überlagern sich gegenseitig. Anders als bei literarischen Doppelgängern wie Jekyll & Hyde von R. L. Stevenson wechseln die beiden Gesichter Steves nicht zwischen den Szenen, sie sind permanent präsent und überlagern sich gegenseitig.“
Alles wird gut. Alles muss gut werden. Es kann gar nicht böse ausgehen. Wenn sich Eltern mit ihren Kindern verkrachen, liegen sie sich am Ende doch lachend oder weinend in den Armen. So lehrt es uns Hollywood mit jedem neuen Streifen, der in die Kinos kommt. Und doch kennt jedes Kind die Angst, von den Eltern verlassen zu werden oder eines Morgens alleine aufzuwachen. Die Angst schlich sich auch in meine Kindheitsträume, in denen ich aus dem Fahrradanhänger fiel und meiner am Horizont davonfahrenden Mutter zurufen wollte, doch aus meiner Kehle drang keine Stimme. Steve hingegen kennt diese Angst nicht. Er glaubt bedingungslos an die Liebe seiner Mutter. „Es ist geil, wenn du die Cafeteria in Brand steckst, ich könnt mich bepissen“, ruft Diane voll beißendem Sarkasmus auf dem Heimweg und schaut weg, damit Steve nicht die Sorge in ihrem Gesicht sieht. Mit jeder Filmminute werden die Falten tiefer, die Schatten länger, das Lächeln seltener. Diane muss ihren Job hinschmeißen und verliert ihr Freundschaftsumfeld, weil sie sich die Rettung ihres Sohnes zur Lebensaufgabe macht. Um die Rechnung für die Hauttransplarentation bezahlen zu können, will sie sogar mit dem anzüglichen Anwalt von gegenüber ins Bett gehen. Der natürlich „nur“ mit ihr „Pesto essen“ oder Eye Of The Tiger schauen möchte, dessen Ende ihn auch nach dem elften Schauen immer wieder überrascht. Auch wir sind nach 2 Stunden und 18 Minuten überrascht, wohin die Verzweiflung und der verlorene Glaube Diane treibt. Wo uns doch Hollywood eingetrichtert hat, dass nichts die Bindung zwischen Mutter und Sohn zerstören kann. Wo der flüchtige Dialogfetzen, in dem zu Filmbeginn das Adoptionsgesetz erwähnt wird, schon in weite Ferne gerückt ist. Was bleibt, ist Schmerz. Weil wir jede Figur verstehen können, im Moment jeder Entscheidung, so sehr sie sich auch gegenseitig Schaden zufügen.
Film sei eine Kunst, weil er nicht nur technisch auf der Leinwand reproduziert werde, sondern die Fantasie in den Köpfen seiner Zuschauer*innen anregt. So erklärte der Filmemacher Edgar Reitz beim Bundeskongress Kommunaler Kinos im Dezember 2020. Was Diane am Ende zurück zum Gedanken führt, ihren Sohn abzugeben, verrät Dolan auch in 128 Minuten Spielzeit nicht auf der Leinwand. Die Angst vor dem Klicken der Zentralverriegelung hat uns bereits der wenige Monate später veröffentlichte Film Freistatt (Regie: Marc Brummund) eingetrieben. Die Bilder von Wolfgang, der vor dem Heim für Schwererziehbare aus dem Auto steigt und noch nicht ahnt, dass seine Mutter im nächsten Moment den Wagen starten und ihrem weinenden und schreienden Jungen unerbittlich davonfährt, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie kaum eine andere Filmszene. Bei Mommy kommen diese Bilder wieder hoch. Auch hier wird das Auto zur Falle, endet die gute Miene im Verrat? Obwohl doch noch wenige Szenen zuvor alles einen guten Weg gefunden zu haben schien?
In unseren Köpfen bleiben quälende Gedanken. Bleibt die Frage, wie wir uns entschieden hätten. Der Riegel der Beifahrertür ist nur wenige Zentimeter von dir entfernt. Du brauchst ihn nur zu drücken.
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