Die Wahl des Studienfachs legt häufig den Grundstein für den späteren Lebensweg. Was, wenn sich Pläne plötzlich ändern oder die Entscheidung falsch war? Linda hat genau das erlebt und weiß nun: Auch ein Studienabbruch bringt einen weiter.
Selten haben so viele Menschen ihr Leben so kritisch hinterfragt wie 2020. Wer dieses Jahr viel Zeit mit seinen eigenen Gedanken verbracht hat und seinen Alltag plötzlich mit Distanz betrachten musste, wird schnell in Versuchung gekommen sein, alles einmal grundsätzlich anzuzweifeln und zu überdenken. Im Großen, wenn es um die Gesellschaft in der wir leben, Krisen oder unseren Konsum ging. Und im Kleinen, wenn es um die eigenen Zukunftspläne oder Lebensziele ging. Auch Linda (24), die bis vor kurzem Sonderpädagogik in Hannover studiert hat, hat diesen Prozess vergangenes Jahr durchgemacht. Am Ende stand für sie die Entscheidung fest: Studienabbruch.
Mit ihrer Entscheidung ist Linda nicht alleine. Viele junge Menschen treffen im Verlauf ihres Studiums den Entschluss zum Abbruch und wechseln den Studiengang oder fangen eine Ausbildung an. Die Studienabbrecher*innen-Quote ist in den letzten Jahren laut Statistischem Bundesamt zwar leicht zurückgegangen. Ein Viertel der Studierenden bricht das Studium trotzdem vor dem Bachelorabschluss ab. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Häufig wissen Abiturient*innen nach der Schule nicht genau, wo ihre Interessen und Stärken liegen und stellen dies erst nach ein bis zwei Semestern im falschen Studiengang fest. Ein Wechsel ist zu diesem Zeitpunkt meist noch ohne Probleme möglich und nicht unüblich. Mit fortschreitendem Studienverlauf wächst die Sorge, dass alle bisherigen Anstrengungen umsonst gewesen seien und es wirkt naheliegender, den ursprünglich angestrebten Abschluss doch noch durchzuziehen.
Linda stellt statistisch gesehen einen Sonderfall dar: Sie hat schon einen Bachelor-Abschluss und bricht nun ihr zweites Studium der Sonderpädagogik ab. Ihren ersten Bachelor hat sie in Medienwissenschaften gemacht. Schon während des Studiums hat sie gemerkt, dass es eigentlich nicht das ist, was sie wirklich machen möchte. Warum sie überhaupt damit angefangen hat, weiß sie heute gar nicht mehr genau. Was sie mittlerweile allerdings weiß ist, dass ihr in der Medien- und Werbebranche der für sie sinnstiftende Aspekt fehlt. Durchgezogen hat sie den Bachelor am Ende trotzdem, auch, wenn sie sich selbst in der Branche überhaupt nicht vor-stellen konnte. Statt einem Master wollte sie daher im Anschluss etwas Anderes, etwas Neues machen. Sie schrieb sich noch während ihrer Bachelorarbeit für den Studiengang Sonderpädagogik ein. Rückblickend betrachtet meint sie, mit der Studienwahl sei sie diesmal nur ihrem Idealismus und nicht ihren Kompetenzen gefolgt. Das stellte sich schon kurz nach Studienstart als Fehler heraus.
Die Qual der Wahl
Dass die Studienwahl kein einfaches Thema ist, zeigen auch die schier endlosen Studienberatungsangebote, die Universitäten, Hochschulen oder sonstige Beratungseinrichtungen bereitstellen. Und das zu Recht: Die Auswahl an möglichen Studiengängen wird immer größer. Nach Zahlen des Hochschulkompasses ist die Anzahl der Studiengänge zwischen 2014 und 2019 in Deutschland um 17 Prozent auf mehr als 20.000 gestiegen. Dies liegt vor allem daran, dass immer mehr Hochschulen versuchen, ihr Studienangebot möglichst weit auszudifferenzieren und fachliche Nischen einzelner Disziplinen in den Vordergrund zu stellen. Anstatt sich im Grundstudium einen generellen Überblick für eine spätere Vertiefung zu verschaffen, haben Studienanfänger*innen heute schon von Tag eins an die Möglichkeit, sich zu spezialisieren. Das kritisiert inzwischen auch der Deutsche Wissenschaftsrat. Dieses Schaffen von Alleinstellungsmerkmalen an den Universitäten führe zwar zu immer mehr Möglichkeiten, aber auch immer mehr Unsicherheit bei der Studienwahl. Studien, darunter die repräsentative Befragung „Schule, und dann?“ des Allensbach-Instituts, belegen ohnehin seit Jahren, dass Schüler*innen nach dem Abitur zunehmend mit den vielen Möglichkeiten überfordert sind.
Beim zweiten Mal wollte Linda nicht wieder den selben Fehler machen und etwas durchziehen, von dem sie weiß, dass es nicht das Richtige ist. Den Entschluss zum Abbruch fasste sie diesmal schon nach einigen Monaten im neuen Studium und fühlt sich mit ihrer Entscheidung auch nicht schlecht. Stattdessen denkt sie heute, dass es viel mehr Mut erfordere, Dinge, für die man sich entschieden hat, im Nachhinein wieder zu revidieren. Ihre Methode der „radikalen Ehrlichkeit“ mit sich selbst – wie sie es nennt – also sich auf keinen Fall mehr etwas vorzumachen, hat ihr bei ihrem Entschluss geholfen. Rückblickend denkt Linda auch, dass das der Unterschied zu ihrem ersten Studium war, welches sie letzten Endes doch durchgezogen hat: „Ich hing beim ersten Mal viel länger in der Phase, in der ich mir das alles nicht eingestanden habe und am Ende war es dann zu spät“.
Distanz als Entscheidungshilfe
Was für die meisten Studierenden in diesem Jahr eine zusätzliche Belastung war, hat Linda bei ihrer Entscheidung sogar unterstützt: Im Online-Semester fällt ein Studienabbruch deutlich leichter. Die Distanz zum Studiengang hat es letzten Endes einfacher gemacht, einen Schlussstrich zu ziehen. Ein soziales Umfeld, das man hätte verlieren können, gab es derzeit ja eh nicht.
„Das Ganze erinnerte fast ein bisschen an eine Beziehung, bei der eine Trennung online weniger emotional und dafür endgültiger ausfallen kann“,
meint Linda im Nachhinein.
Bei anderen Studierenden war Corona eher keine Hilfe. Die Zweifel am Studium kamen erst durch die endlosen Videokonferenzen und den Wegbruch des sozialen Umfelds. Immer mehr Studierende haben daher in der Pandemie professionelle Unterstützung aufgrund von psychischen Erkrankungen gesucht, wie eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung belegt. Auch die Landesregierungen sind sich dieser Problematik bewusst und versuchen Studierende zu entlasten. Erst vor wenigen Wochen hat die niedersächsische Landesregierung die Regelstudienzeit für Studierende verlängert, was vor allem für auf BAföG angewiesene Studierende zumindest eine finanzielle Erleichterung darstellt.
Ausblick ins Ungewisse
Wie genau es für Linda im nächsten Jahr weitergeht, weiß sie selbst noch nicht genau. Sich erneut Gedanken über die Zukunft machen zu müssen, begreift sie zwar als Chance, empfindet es aber auch als Belastung. „Jetzt hat man halt die Qual der Wahl – aber besser die Qual, als gar keine Wahl“, meint sie. Aktuell plant sie, im kommenden Wintersemester einen Master anzufangen. Public Health soll es werden. Sie hofft, so könne sie ihren Bachelor doch noch für etwas für sie Sinnstiftendes verwenden. In Zukunft will Linda Entscheidungen mehr hinterfragen: „Ist es wirklich das, was ich will oder ist es bloß die einzige Option, die ich sehe?“. Bis es nächstes Jahr soweit ist, möchte sie jobben und sich mit Schlüsselkompentenz-Kursen weiterbilden. Die Entscheidung, ihr aktuelles Studium abzubrechen, bereut Linda bisher nicht. Sie findet, dass sie dadurch jede Menge über sich und ihre eigenen Ziele gelernt hat. Allen anderen rät sie, dass es natürlich manchmal gar nicht so verkehrt ist, an sich selbst zu zweifeln.
Beitragsbild: Philippe Bout on Unsplash
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